Veni creator spiritus – oder:
Die tausend Stimmen des Heinrich Kaminski

Einführungstext zur cpo-Produktion von Dr. Eckhardt van den Hoogen

1

... sie wurden alle voll des Heiligen Geistes und fingen an, zu predigen mit anderen Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen.
(Apostelgeschichte, 2)

Am 4. Juli 2021 jährt sich zum einhundertfünfunddreißigsten Male der Tag, als dem altkatholischen Pfarrer Paul Kaminski und seiner Gemahlin, der Sängerin Mathilde Barro, das fünfte von insgesamt sechs Kindern geschenkt wurde. Und am 21. Juni werden fünfundsiebzig Jahre vergangen sein, seit dieser Sohn in Ried bei Benediktbeuren seinen Geist aufgab und verschied. Zwei Wochen vor der sechzigsten Wiederkehr des Geburtstages endete da eine Lebensbahn, die bestimmt war von einem eklatanten Auf und Ab, von strapaziösen Pendelschlägen zwischen Not und Anerkennung, Glück und Verzweiflung – ein Leben so voller Widersprüche, daß man’s kaum anders als mit dem Paradoxon einer »entbehrungsreichen Fülle« wird bezeichnen können: Wie in einem »asketischen Schlemmerlokal« sei er sich vorgekommen, hat der Freund Walter Braunfels einmal die Tafelfreuden beschrieben, die Elfriede Kaminski, die Gemahlin des überzeugten Vegetariers und Mutter seiner fünf ehelichen Kinder, der Familie und den Gästen aus den Früchten der Natur zu bereiten verstand ...

... und auch der Beobachter, der sich möglichst unbefangen auf die eigentümliche Künstlergestalt einlassen sollte, wird bald bemerken, daß hier ein seltsames Kräftespiel am Werke gewesen sein muß, ohne das dieser Heinrich Kaminski (1886-1946) nie zu dem erwacht wäre, was er war und ist und sein wird: ein Unikat und Unikum, dessen klingendes Vermächtnis so abseits des Weges liegt, daß es sich nur denen öffnet, die innezuhalten im Stande und nicht zu »Opfern« jenes immer schneller sich drehenden Mühlrades der Zeit geworden sind, das mahlend und malmend alles SelbstBewußtSein zerschrotet, bis sich die nivellierten Partikel von ein paar gargantuesken Vielfraßen verschlingen oder von den berühmten »grauen Männern« zu Zigarren rollen und rauchen lassen.1)

Es soll damit beileibe nicht gesagt sein, daß Kunst, wofern sie über die pure Zierde hinaus ins menschliche Dasein einwirken will, je anders als »bedächtig« oder »aufgeschlossen« zu empfangen wäre (schon dem Begriff des »Kunst-Genusses« haftet das Odium der Restaurantqualität an). Doch in dem unendlichen Kaleidoskop der Kreationen gibt es eben ein nicht minder unendliches Spektrum, das sich von Badinerien bis zu symphonischen Riesenbauten, von Liedern ohne Worte bis zu solchen, bei denen uns die Worte fehlen, von munteren Madrigalen bis zu massiven Messen und von neckischen Nymphenspielen bis zu neidigen Nickern erstreckt – und auf dieser Palette markiert die Musik von Heinrich Kaminski nun mal eine äußerst ernsthafte Region, wie sie dem Selbstverständnis eines Mannes entsprach, der seine Profession eher als Profeß und sein Metier nicht als Können, sondern als Künden verstand.

»Ihm schwebte vor, es tropfe seit je das Göttliche der Musik aus Himmelsfernen auf auserwählte Meister der Musik herab, als deren vorab letzten er mit Stefan Georgeschem Ernst sich selbst betrachtete. Er nannte den Sternhimmel eine Partitur, war überzeugt, daß den Schülern, wenn sie nur diesem Wissen gemäß verführen, ›nichts geschehen könne‹. In solchem Glauben lebte und starb er,« schrieb Hans Joachim Moser in den fünfziger Jahren,2) wobei sich die leise Ironie des Ungläubigen merklich von der Tonart abhebt, mit der derselbe Autor sich im Oktober 1929 für den Komponisten, sein kurz zuvor in Dresden mit sehr mäßigem Erfolg uraufgeführtes Drama Jürg Jenatsch und für den Lehrers Kaminski engagiert hatte: »Diesen Mann, der die ganze menschlich-väterliche Verantwortung und Heiligkeit des Lehr-Amtes kennt, möchten die Ernsten unter uns auf den leider von Pfitzner verwaisten Lehrstuhl eines Kompositionsmeisters an der Berliner Akademie der Künste berufen sehen; angeblich fehlen ein paar Tausend Mark [...] es ist zweifellos eine Kleinigkeit für den preußischen Kultusminister und seinen Referenten, die realen Grundlagen für die Berliner Berufung Kaminskis zu schaffen, falls sie sie wirklich wollen ...« 3)

Sieben Jahre zuvor hatte schon der Dirigent Franz von Hoeßlin die außergewöhnlichen Qualitäten des Künstlers in den Musikblättern des Anbruch mit allem Nachdruck propagiert: »Unsere Zeit ist zweifellos geniearm. Es ist daher Pflicht der Mitwelt, sich mit einem Komponisten, der der Geniewelt so nahe steht wie Heinrich Kaminski, intensiv zu befassen.« Und noch dreißig Jahre nach seinem Tode erinnert sich sein Schüler Walter Abegg – der Sohn des ehemaligen preußischen Staatssekretärs Wilhelm A. – an das »unbeirrbare Streben«, mit dem sein einstiger Lehrer seinen Weg verfolgte: »sein Glaube an die Größe der Kunst und ihre Aufgaben sind allen unvergeßlich, die mit ihm zu tun hatten: ein fernes Leuchten, das unser Leben begleitet.«

Was die Zeitgenossen als heiligen Ernst und fernes Leuchten erfuhren, was denen, die beharrlich an die genetischen Ursache geistiger Eigenschaften glauben, als väterliches Erbteil erschien – das war die Emanation eines Wesens, das sich nur langsam, auf verschlungenen Pfaden und wie aus einem Schlaf erwachend seiner Berufung bewußt ward. Die Bankfachlehre in Offenburg, unterbrochen vom gescheiterten Versuch, vom Frankfurter Konservatorium als Schüler angenommen zu werden; das wiederum gänzlich ungeeignete, schnell aufgesteckte Studium der Nationalökonomie; die »Entdeckung« der Begabung durch ein kunstsinniges Heidelberger Fräulein, das in dem Secondo ihres vierhändigen Klavierspiels den wahren Heinrich erkannte, für eine angemessene Weiterbildung sorgte und ihn endlich nach Berlin verfrachtete, wo ihr Schützling nach weniger erbaulichen Unterweisungen bei Wilhelm Klatte und Hugo Kaun in Paul Juon den ihm gemäßen Meister finden sollte: Es muß einer schon ganz schön verrückt sein, um sich derart aus den gesellschaftlichen Vorgaben herauszuwürgen – oder aber er ist von einer solchen Selbstgewißheit erfüllt, daß ihn auch die ärgsten Rückschläge allenfalls behinderten, ihn aber nicht vollends aus dem Geleise und denen, die womöglich auf seine Niederlage hoffen, in die verzeihenden Arme würfen.

Und das war sein Credo vom »eigentlichste[n] und letzte[n] Sinn des Kunstwerks: Kunde zu bringen von dem Licht, und in das Dunkel trüber Zeiten hell hineinzuleuchten als frohe Botschaft: dass der Anschluss an den Strom der Ewigkeit ja immer möglich sei, dass es nur eines Schritts aus Zeit und Raum und Ich hinaus bedürfe, um mit dem Haupt in’s Licht der Ewigkeit zu tauchen und seligen Herzens sich von ihm durchströmt zu fühlen.«

Der langsamen Entfaltung entsprach ein mühsam anmutender Arbeitsgang, in dem Blut- und Bodentheoretiker wie HJ Moser sicherlich ein Zeichen des alemannischen Erbes gesehen hätten, für Kaminski aber eine schöpferische conditio sine qua non darstellte. Carl Orff kam als Schüler zu ihm, als er eben an seinem kolossalen Concerto grosso für Doppelorchester komponierte, und er erinnerte sich, daß das »langsam und schwer, mit äußerster Konzentration und immer am Instrument« vonstatten ging. »Einmal spielte mir Kaminski den ganzen Anfang des Werkes vor. Ich fragte ihn danach, wie es denn nun weitergehen sollte. Zu meiner Überraschung antwortete er nur: ›Es wächst!‹«4)

Es wächst! Das ist er Kern und Keim eines Prinzips, das keine vorfabrizierten Raster, Schemata oder Aufführungsdauern kennt, sondern sich geradezu vegetativ ausbreitet, bis sich das Wachstum erfüllt hat – in welcher Form auch immer: »Der schöpferische Geist allein ist es, der lebendig macht. Zeit wird es endlich, gegen unproduktives Heiligsprechen gewisser Formen anzugehen, die nur darum ein für allemal das richtige sein sollen, weil sie gelegentlich richtig waren und richtig sein können,« dekretierte Heinrich Kaminski schon 1921 im zweiten Jahrgang des Melos. »Form schafft nicht Leben, sondern entsteht aus Leben, ist Ergebnis, Ausdruck von Leben« – und: »Der schöpferische Geist allein ist es, der lebendig macht«. Wir, die Schaffenden, wären demnach gehalten, den immanenten Kräften und dem Walten des creator spiritus zu lauschen, bis jener Moment erreicht ist, in dem wir sehen und hören, »daß alles gut war!« Ob es sich dabei um eine so kolossal vielstimmige Form (zur besseren Unterscheidung vielleicht eher: »Gestalt«!) wie das Concerto grosso oder um eine kleine Canzone für Violine und Orgel, um ein Magnificat oder ein Orchesterkonzert mit Klavier, ein Streichquartett oder ein abendfüllendes Bühnenwerk handelt – sobald sich der Schöpfungsvorgang »erschöpft« hat, zuckt es augenblicksweise wie Erleuchtung auf, wie ein »so und nicht anders«, womit zugleich ein Wechsel des Aggregatzustands einhergeht: »Das reine Kunstwerk tut nicht, sondern es ist« (Kaminski) – und just in diesem Wimpernschlag des Übergangs vom Werdend-Gewordenen zum Seienden ahnen wir, daß es womöglich schon immer vorhanden war und aus seiner Zeitlosigkeit nur heraustreten mußte, um erfahrbar zu werden, indessen es stets im Sinne wahrer religio seinen Seinszustand nie verlieren kann.

»Alle Kunst verlangt irgendein ewiges Element«, notierte Friedrich Hebbel in seinen Tagebüchern, und Heinrich Kaminski, über Johann Sebastian Bachs Gegenwärtigkeit sinnierend, kommt 1926 zu der Erkenntnis, daß seine Musik »eben schlechthin ›lebendig‹ und durch ihr lebensvolles, nicht im Zeitlichen, sondern im Ewigen wurzelndes Sein imstande ist, heute wie vor hundert Jahren ›Leben‹ zu offenbaren und darum jeder pilgernden Seele ›Leben‹ zu spenden, wie ein Baum, der einfach durch die Erfüllung seines Baumseins jedem der da will Schatten und Kühle und köstliche Frucht darbietet.

denn so ist’s: was aus der Zeit geboren ist, fällt mit der Zeit. und was der Zeit dient, leiht ihr Ausdruck, hilft ihr aber nicht, sich zu erlösen.

nun schafft sich jede Zeit wohl ihren Ausdruck, sucht zugleich jedoch auch stets nach dem, was sie erlöse, denn ›Zeit‹ schliesst ›Tod‹ ein. Leben aber will nicht sterben. irgendwie lebt in ihm das Ahnen, Kind der Ewigkeit zu sein, und in den Strom der Ewigkeit wieder zu münden ...«

Im Angesichte eines derartigen Selbstverständnisses, einer solchen Auffassung von Sinn und Zweck der eigenen und fremden Kunst ist es also hochgradig albern, einem Schaffenden auf die Sprünge helfen zu wollen, weil diesem im Laufe einer Lebensspanne gewisse Unbotmäßigkeiten zugestoßen sind. Ist ein ewiges Element in seinen Werken enthalten, dann werden die Zeitläufte, wenn sie reif sind, irgendwann wieder nach diesen Werken greifen – so, wie Basel an dem Zug hält, der sich gerade den Bahnhof unter seinen Geleisen herbeizieht. Fehlt jedoch das Ingredienz, dann hat sich die Angelegenheit nach einer kurzen Weile von selbst erledigt. Sehen und hören wir also, wie gut die beiden Hervorbringungen sind, bei denen wir hier halten.

***

Zur Ermittlung des Stellenwertes, den das 1913 entstandene Streichquartett F-dur in Heinrich Kaminskis Œuvre für sich beanspruchen darf, ist es hilfreich, ein wenig in den Papieren zu stöbern, die der Berliner Kompositionsschüler des russischen Schweizers Paul Juon hinterlassen hat. Das wiederum ermöglicht uns die gut sortierte Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, die nicht-kommerziellen Nutzern dankenswerterweise auch ohne Reise- und Transportkosten zu bedeutenden Einblicken verhilft. Von zahllosen Skizzen und Manuskripten bekannter Werke abgesehen, liegen dort, im digitalen Archiv gelistet, unter anderem eine viersätzige Klaviersonate in f-moll, ein Sonatenkopfsatz in c-moll, fünf Variationen über das Thema aus Beethovens Bagatelle op. 33 Nr. 6 und eine Walzerfolge. Sie zeigen uns einen Studenten, der – vielfach im Vertrauen auf triolische Dreiklangsbrechungen und die gute alte Tonalität – seine sauber geschriebenen Produkte abgeliefert hat: Da fehlt nach dem Trio das Menuett da capo ebensowenig wie die wiederholte Exposition der Hauptsätze, und manchmal scheint es, als habe der zwei- bis vierundzwanzigjährige Kaminski nur unter größten sequenzierenden Plagen vermocht, den vorgeschriebenen Wechsel von der Grund- in die Dominanttonart zu vollbringen (was natürlich nur jemandem ins Auge fällt, der sich selbst das ein oder andere Mal bei vergleichbaren Bemühungen genauso unbeholfen angestellt hat).

Man muß schon die große Lupe nehmen, um einige der Charakteristika zu entdecken, die in einigen Jahren zu Heinrich Kaminskis unverwechselbarem Wortschatz und Prozedere gehören werden – die Verbindung etwa regulärer und triolischer Sechzehntelgruppen oder das Anrennen gegen den Taktstrich wie in Richard Dehmels Holdseligkeit, dem letzten der 1910 entstandenen Vier Lieder, dessen Vierachteltakt in beiden Händen konsequent von der »4« bis zur »3« phrasiert ist. Nichts von alledem aber deutet auf den enormen Sprung hinüber zu dem schönen Quartett für Klavier, Klarinette, Bratsche und Violoncello op. 1b aus dem Jahre 1912, das sich zwar weder von Johannes Brahms noch von Gustav Mahler fernhält und mit (russischen?) Volksliedvariationen sowie diversen magyarischen Einsprengseln aufwartet, dafür aber eine auffallend individuelle Klanglichkeit und eine Energie an den Tag legt, die die Kraft des musikalischen Stromes erahnen läßt, dessen Nähe Kaminski, wenn er komponierte, spüren mußte.

Den nächsten bemerkenswerten Schritt in die Eigenständigkeit tut der mittlerweile Siebenundzwanzigjährige am Ende seiner Lehrzeit mit dem Streichquartett F-dur, das vor allem die biederen Formerfüllungen früherer Hausaufgaben hinter sich gelassen hat und uns jeden Zweifel an der Metamorphose unseres Künstlers nimmt. Den brennt’s jetzt in den Reiseschuhen: Vier attacca aneinander gebundene, jeweils als so etwas wie »Einleitung & Hauptsatz« oder »Vorahnung & Erfüllung« aufzufassende Sätze, die durch mehrere Motive übergreifend verklammert und zu einer überzeugenden Einheit geschmiedet werden – das ist ein unverkennbarer Aufbruch, in den sich allerdings noch immer einige, mitunter auch überraschende Einflüsterungen mischen.

Natürlich wäre es für einen Quartettkomponisten des Jahres 1913 unvorstellbar, den späten Ludwig van Beethoven zu ignorieren; die tristanischen Umdeutungen im ersten Satz jedoch, immerhin eines der prägnanten Elemente des assoziativ gebauten Lento espressivo, sind aus der Feder Eines, für den der Herr des Ringes angeblich ein rotes Tuch war, recht befremdliche Wendungen. Vielleicht soll ja das stürmisch ausbrechende energico ([3] 0:45 und 1:44) ein Aufbegehren, einen Protest gegen den Übermächtigen formulieren, dem Kaminski in einigen Wesensfacetten ähnlich genug war, um sich von ihm vernehmlich distanzieren zu müssen: Beide waren Visionäre, und beiden war es immer wieder gegeben, im festen Vertrauten auf ihre Mission Türen aufzustoßen, hinter denen willige Förderer mit gut gefüllten Börsen saßen ...

Doch ich schweife ab und verliere aus dem Blick, daß es letzten Endes »Sache keines wirklichen Kunstwerks (geschweige denn der Musik!) [ist], irgend etwas ›auszudrücken‹, sondern in lebensvollem Sein sich zu erfüllen«. Also von unserem gegenwärtigen Protagonisten zur Raison gerufen, begnüge ich mich vorläufig mit dem Hinweis auf einige Bausteine, mit denen sich der erste Satz des Streichquartetts in lebensvollem Sein zu erfüllen trachtet. Die chromatisch aufsteigende Cellofigur aus Takt eins, die in Takt sechs isorhythmisch miteinander harmonierenden Viertel sowie das bei 0:27 im pianissimo herabsteigende Motiv aus punktierter Viertel und drei Achteln ergeben mitsamt dem bereits erwähnten »energico« den Stoff einer spannungsreichen Introduktion, die ganz nebenbei gehörig von den akribischen Kontrapunktstudien Kaminskis profitiert: Die bei [3] 3:08 einsetzende, in kanonischen Vierteln sich ausbreitende Fortspinnung der Viertel aus Takt 6 (0:17) ist durchaus als eine praktische Nutzanwendung dessen zu betrachten, was die autographen Präludien-, Fugen- und Inventionsgebilde an engen Führungen enthalten – wobei die strukturelle Bedeutung des Basismotivs aus aufsteigender Quarte und absteigender Sekunde weit über kanonische Spielereien hinausgeht.

Diese musikalische »Urfigur« wird vom zweiten Satz an zum Gegenstand weitreichender Mutationen. Kaminski verwendet sie in allen vier Erscheinungsformen (Original, Krebs, Spiegel und Spiegelkrebs) und verschiedenen, nie aber verschleierten Stauchungen oder Dehnungen – beginnend bei dem Energischen zweiten Satz, der mit seinen 322 Takten ein beachtlich dimensioniertes Scherzo mit einer Fülle kleiner, zum Teil im späteren Verlauf wiederholter oder angedeuteter Variationen darstellt. Drei wuchtigen Tönen (ich nenne sie ohne jeden Hintersinn zur schnellen Identifikation Kaminskis »Es muß sein!«) folgt eine Achtelkette mit der anfangs punktierten, später auch regelmäßig gehaltenen Schlußgruppe, und schon sind wir gehalten, die Abenteuer dieser kontrastierenden Motive bis zum Ende mitzuerleben.

Wo dieses Ende wäre? Gewiß nicht beim Schlußstrich. Denn nach dem massiven Achtel-Unisono ([4] 5:40) zerlegt sich das »Es muß sein!«, und wenn es ab 6:03 trotzig wieder aufersteht, sind die ursprünglichen Quarten endgültig zu Terzen geworden. Und sie allein bleiben übrig, bevor bei 7:22 ein vermeintliches Schlußwort gesprochen wird ...

... Pause ... A-F (»Wafna!?«) ...

... und wir Zeugen einer weitere Verwandlung werden: Das Adagio espressivo schmilzt die Chromatik des ersten Satzes und das »Es muß sein!« zu einer neuen Legierung ein, aus der die verminderte Quarte (f-Cis) hervortritt, mit der das Hauptthema des Finales seinen Anlauf nimmt. Mit will indes scheinen, daß Kaminski, bei der Vollendung seines Streichquartetts vor das geradezu sprichwörtliche »Finalproblem« gestellt, die Relation zwischen äußerer Formgebung und innerlich notwendiger Gestaltung ein wenig zu Ungunsten der letzteren verlagert hat. Seine Lösung besteht in einer keineswegs ungeschickten, jedoch spürbar kalkulierten Überlagerung von Sonate, Variation und Rondo: Nachdem sich zweimal zwei (orthographisch interessante)5) Andante-Takte mahnend vorgeschoben haben, dominiert der vom Scherzo herkommende »Refrain« aus zwei Vierteln und vier Achteln das Geschehen bis hin zu den sequenzierenden Tonraumwanderungen und Fragmentierungen, die jeweils den Übergang zu dem kontrastierenden, mahlerisch-ländlerischen grazioso (recht ruhig) bilden, das dreimal in den Verlauf des Satzes eingreift ([6] 1:01, 3:23 und 5:28) – beim letzten Male von einer Variante des Refrains kontrapunktiert, die noch einmal die Führung übernimmt und, wie um seine direkte Verwandtschaft mit den früheren Ereignissen zu demonstrieren, plötzlich in die zehn letzten Takte des Scherzos umschlägt, deren nahezu wörtliche Wiederholung marcatissimo für klare Verhältnisse sorgt.

Während der Eindruck, es könne sich insbesondere im Finale dieses Streichquartetts um ein Grenzwerk am Rande des akademischen Universums handeln, dessen Gravitationsfelder noch in die Partitur hineinwirkten, nicht vollends aus der Welt zu schaffen ist, leuchten Präludium und Fuge über den Namen Abegg als Doppelgestirn erster Ordnung in Heinrich Kaminskis ureigenstem Kosmos, in dem »die Entstehung der Musik beim Komponieren« zum alleinigen Prinzip erhoben ist. Inzwischen war seit 1917 das beinahe abendfüllende Streichquintett fis-moll fertig, das später auch als Werk für Streichorchester in der Bearbeitung des Schülers Reinhard Schwarz-Schilling erhebliche Erfolge feierte6) und ebenso wie das aparte Quintett für Klarinette, Horn und Streichtrio (1924) von der geglückten Befreiung aus der Welt der »Gedankenfabriken« ein beredtes Zeugnis ablegt – ganz zu schweigen von dem kapitalen Concerto grosso, diesem Inbegriff einer polyphonischen Ideologie, ohne deren Kenntnis wir Kaminskis Schaffen zwar goutieren, nie aber miterlebend in uns werden aufnehmen können, denn:

»wohin wir blicken, in die Natur, in das Sein eines Baums, einer Blume, in die Unendlichkeit des Kosmos oder in den Mikrokosmos des Menschen, überall tritt uns ein unübersehbar vielfältiges Wirken und Walten lebendiger Gesetze entgegen, ein Mysterium, das unser Verstand nicht faßt, das aber unsere Seele, in demütiger Hingabe sich ihm öffnend, in sich selbst lebendig zu erfahren vermag.

begreiflich also, daß Musik, diese reinste Offenbarung ›lebendigen Seins‹, die dem menschlichen Geist gegeben ist, ihrem innersten Wesen nach in der Vielfalt der Polyphonie wurzeln muß und in ihr ihre restloseste Erfüllung findet.

nicht Sache handwerklichen oder gelehrten Könnens ist also Polyphonie [...] ihr Sein ist Klangwerdung ewiger Lebensgesetze, Offenbarwerdung ›lebendigen Seins‹ schlechthin; ihre Sprache: ›in Zungen redende‹ Verkündigung; ihr Mund: die blühende Vielfalt und Fülle eben ihrer ›Vielstimmigkeit‹. [...] und wisse, o Hörer, daß dein Wille, deine Hingabe zu einem wirklich fruchtbaren Musizieren ebenso unentbehrlich ist, wie Kopf und Нändе und Hingabe dessen, der als Ausführender sich mit dir zum Musizieren vereint«7)

Wir werden nicht umhin können, für die Dauer der Geschehnisse diesem Appell Folge zu leisten, wie immer wir auch sonst die Sache sehen mögen. Zu diesem Ende eignen sich Präludium und Fuge über den Namen Abegg aus dem Jahre 1931 auf Grund ihrer Abmessungen und Besetzungsgröße vorzüglich: Kaum zehn Minuten strömen hier konzentrierte Energien als Abbild eines kosmischen Lebens, in dem sich vier Individuen mal verbünden, mal ihrer eigenen Wege gehen, sich wechselseitig inspirieren, zur Nachahmung auffordern und von uns verlangen, jedem einzelnen Treiben nachzuhorchen, bis schließlich – nicht anders als in einer der großen Fugen von Johann Sebastian Bach – eine Verbreiterung der komplexen Bewegungen den Endgipfel verkündet.

Zwei grundlegende Prinzipe bilden das Kraftfeld der Komposition: die freien Taktwechsel des Präludiums und der späteren Zwischenspiele auf der einen, der fast durchgehende Dreivierteltakt der bei [2] 2:08 einsetzenden Fuge mit ihren barock pendelnden Sechzehnteln und dem markanten A-B-E-G-Motiv, das uns schon im ersten Takt des Werkes durch die versammelte Wucht der vier »Einzeltäter« genannt wird. Daraus resultiert ein »Rhythmisches, strenger und freier«, wie Paul Klee sich ausgedrückt hat, eine Art zeitlicher Polyphonie, ein Hin und her zwischen Grenzen und Freiheiten, wechselseitigen Problemstellungen und der Suche nach gemeinsamen Lösungen – wie im richtigen Leben. Und wir, die wir zuhören, schenken vielleicht mal der einen, mal der andern Stimme unsere Aufmerksamkeit und dringen nach und nach in diesen funkelnden Mikrokosmos ein, dem es gleich ist, ob unsere Zeit an ihm hält und zur Besinnung kommt oder nicht. Denn das Kunstwerk ist.

© 2021, Eckhardt van den Hoogen
Einführungstext zu der cpo-Produktion 609 601 4
https://www.jpc.de/jpcng/cpo/detail/-/art/glenn-gould-streichquartett-op-1/hnum/6096014


1) Es überrascht mich immer wieder, daß ein so populäres Buch wie Michael Endes Momo zwar viel gelesen, nicht aber beherzigt wird.
2) Hans Joachim Moser, Musikgeschichte in einhundert Lebensbildern. Stuttgart 21958.
3) Zeitschrift für Musik, Oktober 1929, S. 601ff.
4) Zitiert nach Hans Hartog, Heinrich Kaminski Leben und Werk, Tutzing 1987, S. 47.
5) Anstelle der üblichen Ligaturen notiert Kaminski seine Dreiviertel-Noten über die Taktstriche hinweg, indem er den zur Verlängerung der Halben nötigen Punkt ganz einfach auf die »1« des Folgetaktes setzt – ein für das ungeübte Auge zunächst etwas verwirrender Kunstgriff.
6) Das Werk für Streichorchester wurde 2010 von der Deutschen Kammerakademie Neuss unter Lavard Skou Larsen für cpo eingespielt (CD 777 578-2); mein Text zu dieser Produktion ist gleichfalls auf dieser Website zu finden.
7) Heinrich Kaminski, Einiges über polyphone Musik. In: Musikblätter des Anbruch, 1926/1.


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