"Brutale Arroganz der faustdicken Dingwelt" -
Die Bayerische Staatsbibliothek übernimmt das Archiv der Heinrich Kaminski Gesellschaft


veröffentlicht in Forum Musikbibliothek
Jahrgang 35 Heft 3/November 2014

Heinrich Kaminski (1886–1946) war ein Komponist, dessen Werke bei den Aufführungen unter Fritz Busch, Hermann Scherchen, Bruno Walter und Wilhelm Furtwängler in den Jahren zwischen 1920 und 1938 nicht selten stürmisch von Publikum und Presse gefeiert wurden. Die Bayerische Staatsbibliothek hatte bereits zu Lebzeiten des in Ried bei Benediktbeuren lebenden Komponisten (1935) autografe Kompositions-Manuskripte angekauft und 1984/1985 dessen umfangreichen Nachlass aus dem ehemaligen Besitz seines Mäzens Werner Reinhart erwerben können. Zum Ende dieses Jahres übernimmt unsere Bibliothek das umfangreiche Archiv der Heinrich Kaminski Gesellschaft in Waldshut-Tiengen mit einer Vielzahl an Musikhandschriften, Notendrucken, Tonträgern und Briefen als Geschenk.

Kaminskis öffentlicher Erfolg verhalf ihm 1921 zu einem Exklusivvertrag mit der Wiener Universal Edition mit einer Laufzeit von zehn Jahren. Der Schweizer Industrielle Werner Reinhart entschloss sich nur ein Jahr später, den Komponisten lebenslang finanziell zu unterstützen. /1/ Am 1. Januar 1930 wurde Kaminski als Nachfolger von Hans Pfitzner zum Leiter einer Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin ernannt. Arnold Schönberg hatte ihn auf diese Stelle empfohlen. 1938 jedoch als „Halbjude“ eingestuft, traf Kaminski unvermittelt ein mehrjähriges Aufführungsverbot. Er floh kurzzeitig nach Frankreich und in die Schweiz, kehrte aber bereits 1939 wieder nach Ried zurück. Das Verbot wurde zwar 1941 aufgehoben, mit Ausnahme von „Konzerten der
Partei, ihrer Gliederungen und angeschlossener Verbände“, /2/ doch seine Musik, nun wieder aufgeführt, hatte bei Publikum und Presse ihre einstige ungetrübte Strahlkraft verloren.

Erst gefeiert, dann vergessen, sieht man von dem einen oder anderen heute noch gelegentlich gespielten Werk ab. Ins Repertoire des zeitgenössischen Konzertbetriebes hat es keines seiner Werke geschafft. Ein Schicksal, das Kaminski mit vielen Künstlern teilt; nichts Besonderes oder Außergewöhnliches, würde man meinen.

Und doch: Heinz-Klaus Metzger, „einer der bedeutendsten Theoretiker der Neuen Musik nach 1945“, /3/ mithin eine gewichtige Stimme in der musikwissenschaftlichen Zunft, konstatierte im Jahr 2005: „Wie aber die Unterdrückung des Kaminskischen Werkes durch die Mörder dann nach der Befreiung Deutschlands unmerklich in seine Verdrängung aus dem öffentlichen Bewußtsein sozusagen ins Unbewußte der europäischen Kompositionsgeschichte überging, bleibt rätselhaft“; /4/ dies sei ein „schwer begreiflicher Absturz des Kaminskischen Werkes in den Orkus“. /5/ Sämtliche Rehabilitierungsversuche bis heute „fruchteten nichts“, /6/ wie ein weiterer Hagiograph des Komponisten leidvoll konstatieren musste.

Für das mangelnde Interesse einer breiteren Öffentlichkeit an Kaminskis kompositorischen OEuvre gibt es aus musikwissenschaftlicher Sicht manche Erklärungsversuche: seine nur nationale Bekanntheit zu Lebzeiten oder sein standhaftes Bekenntnis zur Tonalität, das angesichts dodekaphoner und serieller Entwicklungen im 20. Jahrhundert unzeitgemäß erscheinen mag. Und dennoch ist Kaminskis klangliche Welt, wie sie uns in seinem Werk begegnet, mit keiner Note epigonal, sondern auf ihre durchaus traditionelle, nach wie vor der Spätromantik verpflichtete Weise originell, besser gesagt: wahrhaftig. „Bei jedem anderen bestünde die Gefahr der Stilkopie, der archaisierenden Manier“, /7/ steht in einer Musikkritik von 1926 zu lesen, nicht jedoch – so der Autor – bei Kaminski. Das mag zugleich den Erfolg seiner Kompositionen erklären in einer Zeit, in der die Menschen, nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges und der so empfundenen nationalen Demütigung, nach kultureller Identität und zugleich nach künstlerisch verbindlichen Antworten auf die Herausforderungen der Moderne suchten; die einen mit Mitteln der Avantgarde, die anderen in nostalgischem Eskapismus. Dies führt uns aber möglicherweise auch zu den Gründen für Kaminskis heutiges Vergessen, denn „wenn wir über Musik sprechen, dürfen wir weder das von der Zeit und dem Milieu bestimmte Bewußtsein des Komponisten, noch das Bewußtsein des Hörers unberücksichtigt lassen“; /8/ und gerade in Kaminskis musikalischem Duktus verschränken sich auf bemerkenswerte Weise kompositorischer Ausdruck, Stilwille und Persönlichkeit des Künstlers.

Dass seine „Beschäftigung mit theosophischem Gedankengut nicht bloß als biografisches Detail
interessant ist, sondern vielmehr eine wichtige hermeneutische Kategorie darstellt“, /9/ ist in der musikwissenschaftlichen Forschung Konsens, auch, dass jene Geistes- und Lebenshaltung nicht „als bloßes Krisenphänomen“ erklärt werden kann, „entstanden durch den Zusammenbruch aller Werte während und nach dem Ersten Weltkrieg“, sondern als „religiöse Grundhaltung“ zu verstehen ist, die dem Komponisten „während seines ganzen Lebens eigen war“. /10/ Die Rede ist von Arnold Schönberg. Ebenso gut könnte diese Einschätzung aber auch auf den Komponisten Heinrich Kaminski und sein Werk zutreffen.
Kaminski war bekennender Theosoph, sein Vater ein altkatholischer Pfarrer. Das katholische Milieu, das sich gerade im 19. Jahrhundert durch ein „kritisches Verhältnis zur aufkommenden urbanen Welt und zur sich ausbreitenden kapitalistisch-industriellen Ordnung“ /11/ auszeichnete, prägte Kaminskis Weltanschauung zutiefst. Unzweifelhaft trennte sich der Katholizismus mit seiner einseitigen Traditionsorientierung (u. a. nazarenische Kunst, Rückwendung der Kirchenmusik zur Frühklassik) und einem rigorosen Moralismus zunehmend von der Zeitkultur.

Carl Orff, der Anfang der 1920er-Jahre in München bei Kaminski Kompositionsunterricht genommen hatte, bescheinigte seinem Lehrer mit direktem Bezug auf dessen kompositorisches Ethos und den künstlerischen Ausdruckswillen eine „seltsame Religiosität“, an die dieser „gebunden“ sei: „alle seine Musik war Verkündigung.“ Kaminski sei ein „Hymniker“, „Polyphonie war ihm Weltanschauung.“ /12/ Orff hatte Kaminski im Frühsommer 1920 kennengelernt, als er die Uraufführung von dessen 69. Psalm mit dem Münchner Lehrergesangverein unter der Leitung von Bruno Walter besuchte. „Das Werk wie auch seine kurz darauf im Künstlertheater aufgeführte Passionsmusik machte einen starken Eindruck auf mich. Daraufhin entschloß ich mich, bei Kaminski noch einmal in die Lehre zu gehen.“ /13/

Der Schweizer Kirchenmusiker Walter Tappolet erinnert sich: „Wenn man bei seiner Musik nur die Noten spiele“, so habe Kaminski seine Kompositionsweise charakterisiert, „sei sie nicht viel. Sie ist aus einer Haltung der Anbetung und des Lobpreises entstanden und so verlangt sie beim Nachschaffenden eine meditative Versenkungsmöglichkeit, entweder als gegebene Veranlagung oder als intensives Studium.“ /14/ Eine Veranlagung, die bereits den Kompositionsprozess wesentlich prägte: „Er brauchte die Stille der Wälder und Berge des bayerischen Voralpenlandes. Er brauchte die unberührte Natur wie Atem, Speise und Schlaf. Er war ein eifriger Wanderer mit einem gemessenen aber steten Schritt. Wandern, Meditieren und Komponieren waren bei Kaminski eine Einheit […]; er wird nicht wenige seiner thematischen Einfälle einsamen Wanderungen zu verdanken gehabt haben.“ /15/

1926, auf dem Höhepunkt von Kaminskis öffentlicher Wertschätzung, urteilte Heinrich Strobel über dessen Musikstil (wohlgemerkt nicht über die Persönlichkeit des Komponisten): „Aus der hastenden technisierten Gegenwart flüchtet der Musiker in Bereiche des Mystisch-Religiösen […] Hier wird der Stil selbst aus einer tiefen Sehnsucht nach neuer gläubiger Gemeinschaft erneuert.“ /16/

Kaminski selbst äußerte sich in einem Programmheft zu einem Konzert des Bielefelder Musikvereins vom 6. Dezember 1931 zu der von ihm so empfundenen existentiellen Bedrängung durch die Moderne; er spricht von „brutalen Forderungen und der fast beängstigenden Wirrnis einer sich offensichtlich umordnenden u. neu gruppierenden Dingwelt“, von einer „Atem- und Leben-abschnürenden Mechanisierung“ /17/ und „der brutalen Arroganz der faustdicken Dingwelt“, /18/ der es als heutiger Künstler zu trotzen gelte: Moderne als Bedrohung.

Vielleicht verbirgt sich hier die Antwort auf das Rätsel der „Verdrängung aus dem öffentlichen Bewußtsein“ (Heinz-Klaus Metzger) in unserer modernen Welt – in exemplarischer Weise: Es sind nun mal nicht Musikwissenschaftler und Historiker, ja nicht einmal ambitionierte Interpreten die Garanten für Anerkennung und Wertschätzung eines künstlerischen Werkes. Ein musikalisches Kunstwerk ist stets „Spiegel der gesellschaftlichen Wahrnehmungsbedingungen seiner Entstehungs¬zeit“, es ist die „Versinnlichung von Öffentlichkeit in der Musik“. /19/ Und deshalb sind allein die Musikhörer mit ihren je eigenen Vorstellungen, Gedankenverbindungen, Gemütsbewegungen und Werten jene Instanz, „die dem musikalischen Kunstwerk seine tatsächliche Existenz gewährleisten kann“. /20/ Freilich nur, sofern in diesem Kunstwerk ihre Welt gespiegelt ist.

Reiner Nägele leitet die Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München.

Anmerkungen / Quellen


1
Hierzu ausführlich Manfred Peters: Heinrich Kaminski und Arnold Schönberg, in: Österreichische Musikzeitschrift 60 (2005), Nr. 8, S. 16–23, hier S. 17.
2
Zit. n. Hans Hartog: Heinrich Kaminski. Ein Lebensbild, in: Heinrich Kaminski, hrsg. von Walter Abegg, Tutzing 1986 (Komponisten in Bayern. 11), S. 13–73, hier S. 63.
3
Heinz-Klaus Metzger, http://de.wikipedia.org/wiki/Heinz- Klaus_Metzger (5. Mai 2014).
4
Heinz-Klaus Metzger: Heinrich Kaminski, Vortrag, gehal¬ten im Juli 2005, www.heinrich-kaminski.de/metzger (5. Mai 2014).
5
Ebd.
6
Eckhardt van den Hoogen: Einführungstext zur cpo-Produktion,www.heinrich-kaminski.de/dreckhardtvandenhoo gen (5. Mai 2014).
7
Heinrich Strobel: Chormusik von Kaminski, in: Musikblät¬ter des Anbruch 8 (1926), Nr. 7, S. 312.
8
Zofia Lissa: Zur Theorie der musikalischen Rezeption, in: Archiv für Musikwissenschaft 31 (1974), H. 3, S. 157–169, hier S. 169.
9
Beat A. Föllmi: „Schönberg ist Theosoph“. Anmerkungen zu einer wenig beachteten Beziehung, in: International Review oft the Aesthetics and Sociology of Music 30 (1999), Nr. 1, S. 55–63, hier S. 56.
10
Ebd., S. 62.
11
Urs Altermatt: Katholizismus: Antimodernismus mit mo¬dernen Mitteln?, in: Moderne als Problem des Katholizismus, hrsg. von Urs Altermatt u. a., Regensburg 1995 (Eichstätter Beiträge/Abteilung Philosophie und Theologie. 6) S. 33–50, S. 44.
12
Zit. n. Hartog: Heinrich Kaminski, S. 27 f.
13
Ebd., S. 24.
14
Walter Tappolet: Heinrich Kaminski zum Gedenken 1886– 1946, in: Musik und Gottesdienst 25 (1971), H. 1, S. 140–143, hier S. 140.
15
Ebd., S. 142.
16
Strobel: Chormusik von Kaminski, S. 312 f.
17
Heinrich Kaminski: Äußerungen zur Musik. IV: Über deutsche Musik, in: Heinrich Kaminski, hrsg. von Walter Abegg, S. 81.
18
Ebd., S. 80.
19
Andreas Eichhorn: Annäherung durch Distanz: Paul Bekkers Auseinandersetzung mit der Formalästhetik Hanslicks, in: Archiv für Musikwissenschaft 54 (1997), H. 3, S. 194–209, S. 196.
20
Zofia Lissa: Zur Theorie der musikalischen Rezeption, S. 157 f.

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