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Heinrich Kaminski und »das Werk«
Einführungstext zur cpo-Produktion von Dr. Eckhardt van den Hoogen

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Falsehood is worse in kings than beggars
William Shakespeare, Cymbeline [III, 6]
Vor acht Jahren [2004] bereiste ein europäisches Kammerorchester, das sich der Wiederentdeckung »einer hymnisch‑religiös motivierten Strömung der deutschen Musik« verschrieben hatte, unser Land. Man spielte Streichersachen: Introduktion und Fuge von Reinhard Schwarz-Schilling, dessen Geburtstag sich am 9. Mai 2004 gerade zum einhundertsten Male jährte, den Hymnus Vom Unendlichen für Sopran und drei Streichquintette seines bei Kriegsende 37-jährig gefallenen Kollegen Heinz Schubert – und ein Werk für Streichorchester des Mannes, bei dem die beiden Vorgenannten ihr Handwerk gelernt hatten: Heinrich Kaminski, der bunt schillernde, zwischen den Weltkriegen hoch gehandelte Quereinsteiger, mit dem es das Schicksal jedoch so übel meinte, daß bis heute sämtliche Rehabilitationsversuche im Keime erstickten und selbst die glühendsten Appelle des hagiographischen Federviehs nichts fruchteten.
Auch das Projekt »Heinrich Kaminski und sein Kreis« von 2004 blieb folgenlos. Trotz des Förderpreises der Ernst-von-Siemens-Stiftung und trotz manch vernehmlicher Pressefanfare kam es, wie’s seinerzeit schon im Vorfeld ein renommiertes deutsches Tagblatt1) orakelte: Kaminski repräsentiere, war zu lesen, »mehr denn je die der Erde abgewandte Seite des Musikbetriebs – Klassik von einem andern Stern«, und für diese unzeitgemäße »Ästhetik des Zeitlosen« habe sich keine Nische gefunden. »Die nächsten Jahre werden zeigen, ob Kaminski wiederkehrt oder ein drittes Mal untergeht.«
Weder das eine noch das andere geschah. Mit völliger Gleichgültigkeit ging der 4. Juli 2011 vorüber, den man als den 125. Geburtstag des Komponisten hätte zelebrieren können, und auch der 21. Juni als der 65. Todestag blieb unerwähnt. Keine Neueinspielung oder Wiederveröffentlichung etwa des kolossalen Concerto grosso (1923) oder der Dorischen Musik (1934), mit denen Heinrich Kaminski bis in die Chefetagen der größten Institutionen vorgedrungen war, nichts an nennenswerten Aktivitäten kammermusikalischer Natur – und ganz gewiß kein Wort zu den Bühnenwerken Jürg Jenatsch (1927/29) oder König Aphelius, dem rauschhaft vollendeten Schwanensang. Das a cappella-Chorwerk und das Orgelschaffen sind seit längerem zu haben, das noch vor dem Ersten Weltkrieg entstandene Streichquartett F-dur sowie die Musik für Violoncello und Klavier entdeckt man in teils passender, teils weniger passender Kopplung. Doch der Paukenschlag, der erlösende Hieb auf den Schlußstein, unter dem die Mauern der Ignoranz zusammengebrochen wären: Der blieb aus.
Ein Wunder ist das nicht. Denn einer, der es dank seiner Kapazitäten über verschlungenste Seitenwege bis in die Musikblätter des Anbruch, in Pult und Taktstock und andere Periodika schaffte; der mit kaum mehr als dreißig Jahren in die vorderste Riege der deutschen Tonkünstler vorstieß; der trotz chronischen Geldmangels weder die Gemahlin noch die Kinder mußte Hungers sterben lassen, weil immer wer da war, der gerade ein paar Reichsmark, Franken oder Dollar beziehungsweise eine nicht eben schmächtig dotierte Stelle oder einen Auftrag zu vergeben hatte – einen derart überlebenswilligen Geist muß man nicht posthum zur Wiederentdeckung drängen wie eine fußkranke Schildkröte zum kühlenden Teiche. Nein, da genügen die leichten Bewegungen, der dezente Hinweis, das ceterum censeo im festen Vertrauen darauf, daß das, was vorübergehend einmal untergetaucht sein mag, eines Tages qualitätsbedingt wieder auftaucht und dann dort für alle Ewigkeiten bleibt, von Moden, Maschen und Marotten ungetrübt – immer natürlich vorausgesetzt, es handelt sich auch um was, das des »Aufhebens« wert ist: Mittelmäßige Halbtalente, denen vom Leben nichts blieb als eine kostbar gehegte Opferrolle, werden es nicht schaffen, was immer man glaubt aufwenden zu müssen. Auch pathetische Deklamationen wie »Die Zeit ist reif!« können nur ins Leere gehen: erstens, weil sie hülsenleer und haltlos sind; zweitens, weil die Zeit nichts ist, das reifen könnte; und drittens, weil noch jedes »Aufrütteln« mit dem Vorwurf einhergeht, wir unsensiblen Andern hätten die »gereifte Zeit« frevelhafterweise verpaßt. Durch die Erweckung eines schlechten Gewissens läßt sich die Bereitschaft zu künstlerischer Rezeption oder gar zu geistigem Erleben indessen ebensowenig steigern, wie sich auf dem Rade, dem Scheiterhaufen oder beim inquisitorischen Barbecue der Glaube an ein Höchstes Wesen jemals hat befestigen wollen.
Vollends unbrauchbar sind schließlich die Garnituren, die man gern zwischen den nackten Fakten des Lebenswegs versteckt. Die minimalen Akzentverschiebungen und Verfälschungen, die für den Fall der Entdeckung leicht mit wegwerfender Geste (»ach, das ist doch nicht wichtig!«) vom Verhandlungstisch zu wischen sind, richten noch immer die dauerhaftesten Schäden an. »Falschheit zeigt ärger sich im König als im Bettler«, beschrieb Cymbelines Tochter Imogen vor vierhundert Jahren das exponentielle Verhältnis zwischen Potential, Anspruch und Wahrheit: Selbst die fromme Lüge, wenn sie anderes als die Errettung aus akuter Lebensgefahr bezweckt, wird den spirituellen Einblick in die höheren Welten zunächst erschweren, hernach verschließen und endlich zur völligen Leugnung jener Gegenden führen, in denen der Geist seine Nahrung findet, weil er dort daheim ist.

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Komm in den totgesagten park und schau ...
Stefan George, Das Jahr der Seele
Genau diese Regionen aber werden wir aufsuchen müssen, wenn wir nicht immer wieder der äußern Biographie aufsitzen und über ihren oftmals arg mitleidheischenden Details die ewige Kraft vergessen wollen, die da selbst unsichtbar im Hintergrunde wirkt oder, wie’s Friedrich Hölderlin in seiner Ermunterung so trefflich sagte, »sprachlos waltet und unbekannt Zukünftiges bereitet.«
Zwingend ist dieser Abstecher nach Dschinnistan nun nicht aus bloßer Schwärmerei oder, weil Heinrich Kaminski »immer gewußt [hat], daß der Mensch noch von weiter herkommt als von seinen Vorfahren, ja, daß er ein Geheimnis in sich birgt, das von irdischen Voraussetzungen nicht ableitbar ist.«2) Mindestens ebenso wichtig sind ganz praktische Gründe: Wenn wir uns im weiteren Verlauf mit dem Werk für Streichorchester und seiner kammermusikalischen Urform, dem Streichquintett fis-moll, befassen wollen, bekommen wir es unter anderem mit einem geistigen Austausch zu tun, der sich weder aus topo- noch biographischen Gegebenheiten in seiner ganzen Intensität und Tragweite wird erklären lassen.
Zuvor müssen wir freilich die Barrieren, Sprengfallen, Fallstricke, Wassergräben und Schutzwälle, die zwischen dem »wėsen« (so sagte man im Mittelalter für »sein«) und dem Rest der Welt aufgerichtet sind, nebst all den falschen Wegweisern, Zerrspiegeln und Fehldeutungen bezwingen, die uns von unserem Vorsatz abbringen und im wahrsten Sinne des Wortes »verleiten« wollen.
Steiniger ist mir in den vergangenen Jahren eine solche Annäherung nie erschienen. Sogar Gestalten wie der faszinierend schillernde Felix von Weingartner, dem man nie weiter als bis zur nächsten Ausrede glauben darf, teilten sich letztlich leichter mit als dieser Heinrich Kaminski, dessen Innerstes mir von einem jener undurchdringlichen Dornenwerke umsponnen schien, von denen wir im Märchen lesen. Das begann bei der Sekundär-Literatur, die hier ihrem Namen alle Ehre machte: Vieles ist da schief belichtet, hinzugedacht, vorschnell ge- und somit mißdeutet, durch »Ansichten« vorbelastet, ganz einfach auch faktisch falsch oder durch »versehentliche« Auslassungen verzerrt. Besonders beliebt sind da die »tausendjährigen« Erfahrungen mit der neuen Herrenrasse, die auch dem Gegenstand unserer aktuellen Betrachtung nicht erspart blieben. Verglichen mit dem, was unzähligen andern zustieß, hätte sich mit ihm eine wirkliche »Opferrolle« nicht ohne weiteres besetzen lassen – außer, man beging die eine oder andere Unterschlagung, vergaß Teilaspekte der Wahrheit und hoffte, durch derlei posthume Korrekturen die eingangs geschilderte »Wertsteigerung« zu erzielen. Im Falle des Heinrich Kaminski reichten Kleinigkeiten, denn es stand immer außer Zweifel, daß er mit der Welt der braunen Bagage nichts gemein hatte, weshalb er auch 1934 als Dirigent des Bielefelder Musikvereins durch einen strammeren »Pultgenossen« (PG) abgelöst wurde: Nach dem frühen Tode seines Vorgängers und Apologeten Wilhelm Lamping hatte er Ende 1929 dessen Aufgaben übernommen und zumindest bei denen, die eine Antenne für die geistigeren Bereiche der Musik besaßen, tiefste Eindrücke hinterlassen. Daß die nicht mit Blut, Boden und anderem Blödsinn zu vereinbaren und demnach nicht mehr gewünscht waren, leuchtet ein. Die vielfach kolportierte Behauptung jedoch, Kaminski habe am 1. Januar 1933 auf die Verlängerung seines Dreijahresvertrages mit der Preußischen Akademie der Künste verzichtet und seine dortige Meisterklasse, die er 1930 von Hans Pfitzner übernommen hatte, als Zeichen eines weltanschaulichen Protestes abgegeben – diese schemenhaft durch die Literatur schleichende Hypothese geht so sehr an der Tatsache vorbei wie die andernorts verbreitete Kehrseite, wonach man sich seiner entledigt habe, »da er gesinnungsmäßig nicht in die sich abzuzeichnende [sic!] Veränderung der politischen Landschaft paßte.«3) Fakt ist, daß er binnen dreier Jahre auffallend wenige Meisterschüler in der Komposition unterrichtete und der Kosten-Nutzen-Faktor eine nicht unwesentliche Entscheidungshilfe war, den seltsamen Patron aus Süddeutschland loszuwerden, der an festen Einkünften zwar interessiert war, die damit einhergehenden Verpflichtungen aber stets als ein (nachvollziehbares) Schaffenshindernis ansah.
Indessen soll nicht im geringsten bestritten werden, daß Heinrich Kaminski durch sein pures Vorhandensein (= »wėsen«) so manchem völkischen Beobachter ein Dorn im Auge war. Vergessen wir nicht, daß seine Musik nach ‘33 noch geraume Zeit von den größten Künstlern bis hinauf zu Wilhelm Furtwängler dirigiert wurde und daß es noch 1938 Bestrebungen gab, mit Kaminski die durch Paul Hindemiths Weggang entstandene Berliner Lücke zu füllen. Genau das sollte aber offenkundig mit allen Mitteln verhindert werden, und es gelingt: Einem Aktenschnüffler der »Reichsstelle für Sippenforschung« fällt auf, daß Kaminskis Vater, ein aus Polen stammender ehemaliger Priester, der sich nach dem Ersten Vatikanischen Konzil als Geistlicher auf die Seite der Altkatholiken geschlagen hatte – daß dieser Paul Kaminski möglicherweise identisch mit einem beinahe gleichlautenden Paul Kamienski sei, der als unehelicher Sohn einer jüdischen Magd geboren wurde. Wenn nun der (unbekannte) Vater dieses Kamienski-Wartenberger ebenfalls Jude gewesen wäre, so konnte über den mißliebigen Heinrich nur ein Urteil gefällt werden: Striktes Aufführungsverbot. Häufig unterschlagen wird bis heute, daß der Bann am 31. Mai 1941 seine Gültigkeit verlor: Nach einem neuen Gutachten »vom 15.4.1940 über die Abstammung des Herrn Professor Heinrich Kaminski [ist dieser] Mischling mit einem der Rasse nach volljüdischen Großelternteil. Daher hat die Reichsleitung der NSDAP gegen die öffentliche Aufführung seiner Werke keine Bedenken, außer wenn es sich um Konzerte der Partei, ihrer Gliederungen und der angeschlossenen Verbände handelt.« Daß zwischen der »Expertise« und ihrer Inkraftsetzung über ein Jahr verstreicht, nährt den oben geäußerten Argwohn, es könnten hinter den Kulissen einige kulturpolitische Gegenabsichten am Werke gewesen sein. Oh, welche Lust!
Die Rehabilitierung nahm Heinrich Kaminski eine Last von den Schultern. Doch eben nur eine. Schon 1937 ist die Ehefrau mit den fünf Kindern nach München gezogen, um dem Nachwuchs eine ordentliche höhere Schulbildung zu ermöglichen. Am 14. September 1939 ist die älteste Tochter Gabriele nach ihrer Blinddarmoperation nicht mehr aus der Narkose erwacht. Immer wieder hat sich Kaminski vorübergehend in die Schweiz oder ins Oetztal abgesetzt, wo ihn verläßliche Freunde aufnehmen – vor allem der unerschütterliche Werner Reinhart in Winterthur und die Prinzessin Hélčne Croy in Habichen. Dann der nächste Schlag: Seit dem 3. Juni 1943 ist das U-Boot, auf dem der Sohn Donatus als Fähnrich dient, nach einer Tauchübung verschollen. Wie man das aushält? Kaminski arbeitet, wo immer sich die Gelegenheit bietet. Das Tanzdrama für Orchester (1942), die Ballade für Waldhorn und Klavier (1943) und vor allem Das Spiel vom König Aphelius helfen. Auch, wenn er mit einem innern Auge nach München blickt, das allmählich ins Visier der Alliierten gerät. Die Familie muß zwischendurch ausweichen, persönliche gesundheitliche Probleme häufen sich; ein paar Tage bringt Kaminski einen Flüchtling der »Weißen Rose« bei sich unter, während seine vermutlich brillanteste Widerstandsleistung darin besteht, für die Gemahlin seines Freundes und Schülers Schwarz-Schilling, die Pianistin Dusza von Hakrid, einen einwandfreien Stammbaum zu fälschen. Dann ist der Krieg aus. Man kann wieder nach München, wo die Ehefrau durch ein Trümmerstück eine schwere Gehirnerschütterung erleidet. Und im September 1945 stirbt die Tochter Benita, vermutlich in Folge der vorherigen Entbehrungen. Vitalis, der jüngere Sohn, kehrt zwar heim, doch Donatus bleibt spurlos verschwunden. Da soll einer nicht den Mut verlieren. Bis zum Ende des Aphelius hält Heinrich Kaminski noch durch. Dann stürzt er förmlich in sich zusammen. Am 21. Juni 1946 stirbt er, keine sechzig Jahre alt.

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In jedem Lufthauch war ein neues Werden ausgespannt
Ernst Stadler, Vorfrühling
So tragisch und bedauerlich es immer ist, wenn sich das Krummschwert des äußern Verfalls glühend ins DaSein senkt, um das »wėsen« von seiner vermeintlichen Sterblichkeit zu überzeugen: Wir werden von all diesen traurigen Facetten ablassen und uns obendrein, wenn’s auch noch so schwer fällt, aller satirischen Glossen und Marginalien enthalten müssen, die sich bereitwillig herbeidrängen, sobald wir – immer freilich nur beim »Nebenmenschen« – eine Diskrepanz zwischen Ideal und Erfüllung glauben entdecken zu können. Wie lacht nicht unser sarkastisches Gemüt, wenn wir einen Karl May ins Reich des silbernen Löwen streben sehen, derweil er sich im »wirklichen Leben« mit einer Kuh namens Emma herumzankte. Wie vergnügt kichert der Dämon, daß sich der Philanthrop Ludwig van Beethoven mit seinem Gesinde über die Zahl der Kaffeebohnen stritt. Und welch kostbare Randnotiz böte schließlich nicht ein Heinrich Kaminski, der bei der Kasseler Uraufführung seines Concerto grosso im Juni 1923 am erklärten Ziel – der »Diktatur des Taktstrichs« nämlich ein Ende zu setzen – ganz gehörig vorbeischoß und seine spektakuläre Kreation spektakulär in den Boden dirigierte?
Was ließe sich nicht alles ins Feld führen, um den schöpferischen Geist namens Heinrich Kaminski in seinem Käfig festzuhalten! Man könnte ihn beispielsweise einen berechnenden Egoisten nennen, weil er, statt seine Banklehre abzuschließen und also was zum Einkommen der Familie beizutragen, mit Selbstmord droht, um an eine Universität zu kommen, die er aber gleich wieder schwänzt, da ihm ein ältliches, betuchtes Fräulein den Klavier- und Kompositionsunterricht bezahlt. Geeignet wäre auch der »unmoralische Filou«: Nur, weil er so bedeutende Fortschritte in der Musik macht, daß ihn das Sternsche Konservatorium in Berlin aufnimmt, muß er doch nicht sang- & klanglos das Mädchen mit dem unehelichen Kinde4) in Heidelberg sitzen lassen! Und hat auch keine Skrupel, nachdem er in Berlin – noch immer auf Kosten des spendablen Fräuleins – bei seinen erstklassigen Lehrern »ausgelernt« hat, dank einer weiteren Gönnerin auf dem bayerischen Land den Künstler zu spielen. Ist das kein Drückeberger und Simulant, der zusieht, wie »alle Welt« in die Schlacht marschiert, selbst aber der ersten Einberufung durch die Fürsprache einer einflußreichen Dame von Adel entgeht und sich beim zweiten Mal eine pünktlich eintreffende Bronchialschwäche nimmt? Unverantwortlich ist es auch, mitten im Kriege zu heiraten und nachher fünf Kinder5) in die Welt zu setzen: Als Künstler!!! Sich als Patriarch aufzuspielen, der der Familie und seinen Schülern gegenüber nur eine Meinung gelten läßt – die eigene!?
Daß sich seine musikalischen Kreationen inzwischen immer größerer Beliebtheit erfreuen; daß ein Bruno Walter etwa den 69. Psalm für Chor, Kinderchor, Tenor und Orchester, der noch in Berlin begonnen und im bayerischen Ried vollendet wurde, mit gewaltigem Triumph uraufführt; daß der bereits erwähnte Mäzen Werner Reinhart, nachdem er in der Schweiz eine Aufführung des Streichquintetts gehört hat, aus purer Begeisterung zum lebenslangen Sponsor Kaminskis wird; daß der Bielefelder Wilhelm Lamping aus eigener Initiative im Musikverein eine Sammlung durchführt, weil die Chorwerke, die man bis dato hat singen dürfen, als Offenbarung empfunden werden, für die man sich schlicht bedanken will: daß also viele Menschen, die mit der Persönlichkeit und ihrem Schaffen in Berührung kommen, eine eigentümliche Ausstrahlung verspüren, einen frischen Lufthauch, ein neues, unverbrauchtes Werden, eine Ahnung am Ende gar von jenen Landschaften, die uns die Schulweisheit längst hat austreiben wollen – das wird nolens volens gegen die Liste der »Verfehlungen« anzuführen und aufzuwiegen sein.
Es wird jedenfalls gute Gründe für die Stenogramme gegeben haben, in denen die Mitglieder des Bielefelder Musikvereins die Weisheiten ihres Dirigenten Heinrich Kaminski der Nachwelt überlieferten. »Ob wir zum Leben kommen, liegt zuerst an uns selbst. Man kann ja doch nicht gegangen werden. Man kann nur gehen. Wir müssen uns also schon aufraffen und auf den Weg machen,« lautet seine klare Absage an die geistlose Gegenwart. Und: »Die Menschen heute sind besoffen vor lauter ›Tun‹. Nach Meister Eckhart kommt es aber nicht zuerst auf das ›Tun‹, sondern auf das ›Sein‹ an. Das rechte Tun fließt aus dem rechten Sein,«6) spielt er auf die kleine Unterweisung an, in der der große Mystiker des Mittelalters Vom Nutzen des Lassens schrieb: »Die nicht großen Seins sind – welche Werke die auch wirken, da wird nichts draus. Erkenne hieraus, daß man allen Fleiß darauf verwenden solle, gut zu sein, nicht aber so sehr darauf, was man tue oder welcher Art die Werke seien, sondern wie der Grund der Werke sei.«7)
Die Menschen müssen das besondere gespürt haben, auch wenn sie sich’s vielleicht nicht erklären konnten. »Das Mysterium der Musik hatte bereits begonnen, wenn er zum Podium hinaufkam,« berichtet ein Augen- und Ohrenzeuge8), und erneut sind wir aufgefordert, das heute völlig unmöglich Gewordene anzunehmen: daß Heinrich Kaminski nicht nur seinen Meister Eck(e)hart, seinen Zarathustra und seinen Gautama Buddha kannte, sondern daß er selbst ein Mystiker war mit allen Konsequenzen, die diese unzeitgemäße Folgerung nach sich zieht. Der echte Mystiker definiert sich nicht durch das Tun, sondern das Sein (= wėsen) bestimmt das Tun, »es sei Essen, Schlafen, Wachen oder was immer es sei.«9) Ihn umgibt immer die Zeitlosigkeit des spielenden Kindes, das in völliger Hingabe an sein Treiben alles um sich her vergißt und dabei einen göttlichen »Ernst« an den Tag legt, der jedweden Spott – der ohnedies nur ein Abfallprodukt des Nicht-Verstehens ist – verbietet und immer an die Serenität erinnert, mit der der alte Musikmeister seinen Schüler Josef Knecht in der Kunst des Glasperlenspiels unterrichtete. Der Zeit also weitgehend enthoben, sieht der Mystiker, daß »der Mensch noch von weiter herkommt als von seinen Vorfahren«. Er verbindet sich mit andern seiner Spezies über weite »Zeiträume« hin, weil er die »Diktatur des Taktstrichs« auch für Epochen nicht gelten läßt. Der Urgrund, von dem es ihm schöpfend zu »künden« gilt, ist nie fern. Daher auch Tanz und Wort, Rhythmus und Melos als gemeinsame Antriebskräfte bis hin zu dem Experiment des Jürg Jenatsch, der auf der Annahme fußt, daß das Drama einst »aus der kultischen Versinnbildlichung der allem Sein ... zugrunde liegenden Urgesetze« (Kaminski) entstanden sei. Daher aber auch, daß es den Mystiker nicht in der direkten Nähe zu seinesgleichen hält: Die Distanz, wie sie Kaminski zwischen sich und Rudolf Steiner legte und wie sie unter anderem auch im Herbst 1914 zu einem der angeblichen Künstlerfreunde entstand, mag äußerlich durch mannigfache »gute Gründe« gerechtfertigt sein – letztenendes ist sie, so unglaublich es uns aufgeklärten Gemütern auch scheinen will, eine Zwangsläufig- und Notwendigkeit.

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Musik muß strömen! Gibt es Schöneres, als in ihren Strom zu kommen?
Heinrich Kaminski
Im Februar 1914 kam ein völlig mittelloser Heinrich Kaminski in München an. Seine ganze »Barschaft« bestand in einer preußischen Briefmarke, die in Bayern nichts galt. Die Gönnerin Martha Warburg, die für den Heidelberger Klavier- und Kompositionsunterricht sowie für die Berliner Ausbildung aufgekommen war, hatte nach der Erklärung des Lehrers Paul Juon, Kaminski habe nunmehr alles gelernt, was er ihm beibringen könne, ihre Zuwendungen auf die Miete der kleinen Wohnung beschränkt und darauf beharrt, daß ihr Schützling fortan seinen sonstigen Unterhalt selbst bestritte. Dieses Ansinnen – so richtig es im Ansatze auch war – führte indes zwar zu wahren Glanzleistungen des Hungerkünstlers, nicht aber zu den wirklich gewünschten Resultaten: Die Reichshauptstadt war ein hartes Pflaster, kein Nährboden für den jungen Mystiker, der also dankbar das Angebot eines aus München stammenden Studienfreundes annahm und fürs erste bei dessen Eltern unterkam. Die einstige Klavierlehrerin des nämlichen Kommilitonen, eine Frau Hirzel-Langenhan, ließ es sich gemeinsam mit dem nach wie vor treuen Fräulein Warburg angelegen sein, ein geeigneteres Terrain zu besorgen: In Ried bei Benediktbeuren mietete sie ein leerstehendes »Ausgedinge« (Altenteil eines Bauernhofes), und bald hatte Kaminski einen heimeligen Platz, wo er seinen angefangenen 69. Psalm zu Ende schreiben und das Klavier unterbringen konnte, das er noch in Berlin-Zehlendorf hatte.
Ganz in der Nähe stand das »Häuschen« des Ehepaares Franz und Maria Marc. Wann genau die beiden mit Heinrich Kaminski bekannt wurden, läßt sich nur schwer sagen. Definitiv unrichtig ist die oftmals nachgeplapperte Behauptung, es sei damals, mithin im Frühjahr 1914, zwischen dem Komponisten und dem sechs Jahre älteren Maler eine Künstlerfreundschaft entstanden. Wohl war man sich bald begegnet – auf dem Dorfe geradezu zwangsläufig – , doch ein näherer Kontakt entsteht erst, als sich Marc trotz aller Vorstellungen seiner Gemahlin freiwillig zu den Waffen meldet und an die Westfront zieht. Künftig wird Kaminski Maria Marc im Klavierspiel unterweisen. Sie wird die Fortschritte und die künstlerischen Erwägungen dieser Stunden hinaus ins Feld berichten. In den »Briefe[n] aus dem Felde« vom 1. September 1914 bis zu jenem idiotischen 4. März 1916, an dem Franz Marc bei einem Erkundungsritt von einem Granatsplitter getötet wird, bricht sich mancherlei, was während dieser Unterweisungen gesagt und getan ward.
Und es hat ganz den Anschein, als habe – über das Relais der Maria Marc – zwischen den beiden Mystikern jetzt eine Kommunikation stattgefunden, die den so oft leichtfertig benutzten Begriff der »Freundschaft« überhaupt erst mit Leben erfüllte.
Franz Marc hat zweimal – im Juli und im November 1915 – Heimaturlaub erhalten. Rund zwei Dutzend Mal erwähnt er den Namen Kaminsky [sic!] in seinen Briefen. Doch das skizzenhafte Charakterbild, das er von dem damals noch nicht Dreißigjährigen entwirft, zeugt von einem staunenswerten Gespür, das alle bisher so leichtfertig angestellten Vermutungen über die »höheren Welten« der Mystiker zu bestätigen scheint. »Daß Kaminsky wirklich Komponist ist, wußte ich gar nicht. Dann verstehe ich natürlich, daß er nicht in dem Sinne zum Musizieren zu bringen ist. [...] Ich sehne mich nach nichts mehr, als einmal einen Komponisten spielen zu hören.« (27. 3. 1915) – »Schreib mir einmal: ist K. produktiv! Schafft er wirklich, oder lebt er nur rein?– (29. 3. 1915) – »Kaminsky scheint ja eher ein reiner Mensch zu sein; aber ich muß erst etwas von seiner eigenen Musik hören, auf die ich furchtbar gespannt bin.« (13. 4. 1915) – »Was macht der gute Kaminsky? Erzähl mir nur weiter von ihm, was er sagt und denkt und tut.« (21. 7. 1915)
Heinrich Kaminski arbeitet an seinem Streichquintett fis-moll. Und denkt und tut so ziemlich das genaue Gegenteil dessen, was seinen komplementären Widerpart damals umtreibt. Der sucht nach der »reinen Form«, Kaminski hingegen nach dem organischen Wachstum, das Form wird – und beide haben, wenn man das Medium ihres jeweiligen Kündens betrachtet, auf ihre Weise recht. Der Maler lebt noch immer in der absoluten Gewißheit, daß man »siegen« werde. Der Komponist verabscheut den Krieg, den der »Brieffreund« wenigstens im ersten Jahr noch als etwas Mystisches empfindet: »ich fühle den Geist, der hinter den Schlachten, hinter jeder Kugel schwebt, so stark, daß das Realistische, Materielle ganz verschwindet ...« (12. 9. 1914). Doch in einigen wesentlicheren Punkten herrscht Einigkeit: daß das »Geistige Reich« bleiben wird, was immer geschieht; daß Reinheit des Denkens und des Tuns Vorrang vor allen inhaltlichen Erwägungen hat. »Ich zeichne und male nie vor der Natur, sondern lediglich aus dem Gedächtnis oder mehr: aus der Phantasie, Formkompositionen, ähnlich wohl, wie ein Musiker schafft,« schreibt Franz Marc am 30. Mai 1915 einer »Absenderin von Liebesgaben«, die ihn offenbar um eine Skizze gebeten hatte. Und wenn Heinrich Kaminski später konstatiert, es sei »nicht Sache der Kunst, Gefühle auszudrücken. Musik ist da, um zu klingen und lebendig zu sein. Sie stellt nichts dar. Sie ist Leben an sich« – dann mögen inzwischen zwar anderthalb Jahrzehnte vergangen sein, die prinzipielle Einstellung zum »ErSchaffen« aber hat sich nur vertieft und nicht gewandelt.
Während infolgedessen das Streichquintett, das im Herbst 1916 vollendet und am 12. März 1917 in München uraufgeführt wurde, trotz verschiedentlicher Vermutungen keine Trauermusik für Franz Marc ist – Kaminski widmete die Komposition Bruno Walter –, so haben sich in der »halb-abendfüllenden« Schöpfung gleichwohl viele gedankliche Übereinstimmungen und Scheindiskrepanzen niedergeschlagen, die desto faszinierender sind, als das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung ein Wechselseitiges war. Wenn etwa Franz Marc und einige seiner Zeitgenossen, darunter der musikalisch-geniale Paul Klee, ihre Formen finden, ist uns immer auch der »Weg dorthin« nachvollziehbar: Die abstrakten Linien und Bögen, die tönenden Farbflächen und Schichtungen enden in quasi gegenständlichen Rehen oder Pferden beziehungsweise in einer Fuge in Rot, einem Notturno mit Horn und einem Alten Klang. Sie wachsen wie die Musik, die Heinrich Kaminski schreibt. Mit einigem guten Willen werden wir im ersten Satz seines Quintetts den vielfach propagierten »freien Sonatensatz« herausdestillieren können; für das Andante dürfen wir das große, dreiteilige Lied annehmen; und in dem ländlerartigen Scherzo wird der Analytiker das klassische A-B-A schon deshalb aufspüren, weil er damit rechnet. Wie aber, wenn wir uns – wiederum nur versuchsweise – einfach einmal auf die Ereignisse so einlassen, als wären wir bei ihrem Entstehen von Anfang an dabei?
Etwa so, wie in jüngerer Zeit ein gewisser Sergiu Celibidache, dessen Mentor Heinz Tiessen übrigens beim selben Wilhelm Klatte in Berlin lernte wie Kaminski, sich mit seinen ungewöhnlichen Thesen vom »Erleben der Musik« den bekanntesten Werken der Literatur genähert und diese vielmals zu wahrhaft mystischem Weltenbau erhoben hat: Gewiß könnten wir zergliedern, wie die weit gespreizten Oktaven, Septimen und Sexten das gesamte Quintett motivisch verklammern. Wie sich über kleinste Metamorphosen aus einer Figur zweier Sechzehntel mit anschließender Achtel plötzlich eine neue, retrograde Gestalt ergibt. Wir könnten die harmonischen Verläufe durchforsten, uns fragen, ob nicht hin und wieder den Spielern des Stückes mit neuen Akkoladenvorzeichen besser gedient wäre als mit der sturen Beibehaltung der drei Kreuze auch dort, wo man sich inmitten einer höheren B-Tonart befindet. Es ist aber auch möglich, gleich in dem Atemzug der beiden ersten Takte mitzuatmen und sich nach dem kurzen Aufzucken des tänzerischen Impulses dahintreiben zu lassen: »Musik muß strömen! Gibt es Schöneres, als in ihren Strom zu kommen?« fragte Heinrich Kaminski – und mehr als zwölf Jahre früher, bei der Premiere des Quintetts, kam bereits die Antwort, als ein Münchner Rezensent urteilte, man sei beim Hören »in den Strom innerlichsten Miterlebens gerissen« worden. Ekstase und Besinnung, dichte Polyphonie und geruhsames Fließen, überraschend aus »andern Welten« kommende und doch aus der gemeinsamen Substanz organisch gewachsene Gegenbewegungen, dazu eine schier unüberschaubare Fülle an Tempowechseln (als Spiel mit der Zeit?); im zweiten Satz und besonders auch in dem gewissermaßen »zwiefachen« Ländler ein gelegentliches Vorstoßen zu Anton Bruckner – Mystiker auch er mit allen Konsequenzen – und immer wieder der Tanz der Einzelstimme wie des Ensembles: Das sind einige der zentralen Erlebensstränge dieses Quintetts, das sich, ganz nebenbei bemerkt, nicht nur in vier, sondern auch in zwei übergreifenden Tableaux beschreiben ließe, da die beiden ersten Sätze attacca miteinander verbunden und durch den »Atemzug« des Anfangs zum Bogen gefaßt sind, während das Ländler-Scherzo und das Finale ihrerseits einen attacca-Komplex darstellen.
Das Finale hat Heinrich Kaminski als Fuga bezeichnet, und prompt entdeckt man seit jeher in dem gigantischen Gebilde die gehörigen »Themeneinsätze«, die zwar nicht schulmäßig, aber eben doch »fugiert« behandelt werden, oder man flüchtet sich (bei einer »Fuge« durchaus nicht unangebracht) in Floskelwerk, das prophylaktisch vom »erstaunlichen Reichtum an Erscheinungsformen« schwärmt, auf daß niemand die Noten einer näheren Inspektion unterziehe. Dann dauert es nämlich gar nicht lange, und unsere Schulweisheit löst sich in mikroskopische Bestandteile auf. Dieses krönende Schlußstück des Quintetts ist, wie aus dem als Notenbeispiel mitgeteilten Thema und seinen Abspaltungen ersichtlich, keineswegs als Fuge, sondern vielmehr als »Zentri-Fuge« komponiert. Nicht die Abfolge verschiedener »Einsätze« bestimmt den Verlauf, sondern innerhalb eines an sich geschlossenen Systems fliegen verschiedene Motive aus ihrem Zusammenhang heraus, um sich neu zu gruppieren, nach ihrer Verdichtung (erstmals bei 1’53ff) in anderen Bewegungen zu organisieren, völlig den Puls zu wechseln (3‘50 der Übergang in breite Triolen) oder die erreichte Kompression durch Rarefizierung (Sehr ruhig, 4‘25ff) in gleichsam gasförmige Urzustände überzuleiten, von denen aus ein weiterer Schöpfungsvorgang in Angriff genommen wird.
»Wir übersehen heute in dem großen geistigen Gewühle, in dem Europa steckt, durchaus noch nicht die wahren Linien und Formen,« schreibt Franz Marc am 2. Dezember 1915 seiner Frau. »Vielleicht sind die Ansätze in der Malerei prominenter als in der Musik, – aber auch da werden sie sein; man muß nur sehr scharf horchen, – nicht in Konzerten, sondern nach innen horchen, sowie man die neue Malerei nicht in Ausstellungen suchen darf, sondern auf der Straße, im Leben und in der Nacht. Ich sehe sogar deutlich die neue Musik, den ganzen neuen Kontrapunkt: im Sternenhimmel.« Ich wage zu behaupten, daß Heinrich Kaminski den Inhalt dieses Briefes gekannt hat – wie so vieles, was damals zwischen Ried und der Westfront hin- und herging –, und daß er, dem Ludwig van Beethovens spätes Quartettschaffen in jedem Falle geläufig war, mit seiner »Fuga« tatsächlich den neuen Kontrapunkt mit einer in sich mehrfach geschichteten und gefalteten Architektur von der Sonatenform bis hin zum Tanz aus dem Innern und dem Urgrund sowohl mystisch wie auch intellektuell hat vereinen wollen. Das ist freilich nur eine vorläufige Einschätzung, denn der Reichtum der Beziehungen, das Kaleidoskop dieses klingenden Planetariums, die »offene Geschlossenheit« der Musik und die schiere Wucht ihrer Ekstasen muß viele Male erlebt werden, bis »die Zeit reif« ist.
Epilog
Zehn Jahre nach der Münchner Premiere nahm sich Heinrich Kaminski sein Streichquintett zur leichten Auflichtung der polyphonen Verflechtungen vor. Fast zeitgleich regte Alfred Hertzka, der rührige Verlagsleiter der Wiener Universal Edition, eine chorische Streicher-Fassung der symphonisch dimensionierten Musik an. Diese Arbeit überließ Kaminski seinem Schüler Reinhard Schwarz-Schilling, der sich der Aufgabe zu allgemeiner Zufriedenheit annahm. Als Werk für Streichorchester – wie hätte man’s auch anders nennen sollen? – erlebte die Bearbeitung am 22. Februar 1929 in Wuppertal-Elberfeld unter Franz von Hoeßlin ihre Uraufführung. Einige Tage später wurde das Werk in Wuppertal-Barmen zum zweiten Male gegeben. Der Erfolg war ein allgemeiner, wie die abschließenden Auszüge aus der lokalen Presse zweifelsfrei überliefern:
»Das Werk Kaminskis ist von seltener Schönheit und Eindringlichkeit des Ausdrucks. Auf zwei getragene Sätze, in denen sich edle gesangliche Linien ausspinnen und stellenweise mystische Glut auflodert, folgt ein rhythmisch packendes Scherzo und schließlich eine Fuge, in der der Tondichter der alten Form durch geistvolle Variationen des Themas ganz neue und fesselnde Seiten abgewinnt. [...] Die edle, ebenso technisch interessierende wie seelisch erwärmende Tonschöpfung [...] wurde von der Hörerschaft mit ungewöhnlicher Herzlichkeit aufgenommen« (BMZ, 23.2.1929)
»Das viersätzige Werk, das immer wieder aus dem Gegensatze eines Soloquintetts mit dem ganzen Orchester Kraft und Wirkung holt (ein Effekt, wie ihn Kaminski in der Art der vorbachischen Zeit oft verwendet) beginnt mit einem feierlichen, getragenen Thema, das immer wieder erklingt, und zwar im Wechsel mit einem in lebhaften Figuren fortschreitenden zweiten Thema. Aus diesen beiden und einem dritten, von weitgeschwungener Mollmelodik, baut sich der erste Satz vorwiegend auf, ohne daß man von einer Durchführung im eigentlichen Sinne sprechen könnnte. Sehr reizvoll erscheint die Umdeutung durch den Wechsel der Instrumentierung, der auf das Schönste das Können und den Reichtum des Komponisten erweist« (Barmer Zeitung, 23.2.1929)
»Als Klangprodukt in seinen orchestralen Auswirkungen und Feinheiten zum nicht geringen Teil ein Verdienst des Bearbeiters, der innerhalb des Streichkörpers ein Soloquintett verwendet und durch geschickte Umrahmung den Gesamtstreichkörper zu farbfrohen Bildern bringt. Der Bearbeiter hat also das Quintett in ein »Concerto grosso« verwandelt, dessen Stileigentümlichkeit ja diese Art mit und gegeneinander konzertierender Instrumente ist, nur mit dem Unterschied, daß hier dem Concertino nicht die solistische Vorherrschaft so stark eingeräumt ist, daß der übrige Streichkörper in den Hintergrund tritt. Der Gesamtkörper gab den Bildern die leuchtenden Farben. Hinter dieser schillernden Fassade stand die starke Musikerpersönlichkeit des Komponisten, stand derselbe weltabgewandt=verzückte Ekstatiker, dem Musik spontaner Glücksausdruck ist: echt und wahr aus innerster Ueberzeugung geboren, wie man ihn aus seinen schon zur Aufführung gekommenen Werken kennt. Musik (trotz intensivster thematischer Arbeit) aus einem Guß, die, einmal im Zuge, Musiker und Dirigenten trägt und fühlbar den Zuhörer in ihren suggestiven Bannkreis zwingt. Ohne im eigentlichen Sinne fortschrittlich modern zu sein, doch immer fesselnd, Klanghärten sorgsam meidend, hat sie ihre Kraftquelle nicht im rhythmischen, sondern im melodischen Element, auf sicherem Fundament gefestigter Anschauungen fußend. So steht sie dem gegenwärtigen Konzertbesucher weit näher als die exotisch-extremen Rhythmiker, deren Wirkungskreis in der kommenden Generation des vorwiegend rhythmisch bewegten Menschen liegt. Der lebhafte Beifall, den das viersätzige, in einer kraftvollen Fuge gipfelnde Werk, dem Franz v. Hoeßlin ein warmherziger Fürsprecher war, fand, sprach für seine Gefühlsnähe« (Barmer Anzeiger, 26.2. 1929).

© 2012, Eckhardt van den Hoogen
Einführungstext zu der cpo-Produktion 777 578-2
https://www.jpc.de/jpcng/cpo/detail/-/art/Heinrich-Kaminski-1886-1946-Werk-f%C3%BCr-Streichorchester/hnum/5118478

1) Volker Tarnow, WELT online vom 29. Oktober 2004
2) Hans Hartog, Heinrich Kaminski • Leben und Werk. Tutzing 1987, S. 15.
3) Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band III (1992), Spalten 999-1005.
4) Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß Kaminski den 1909 geborenen Manfred Lindacker während der schweren Kriegsjahre geraume Zeit zu sich genommen hat.
5) Gabriele (1.1. 1918), Benita (7. Mai 1921), die Zwillinge Renate & Donatus (19. September 1922) und Vitalis (14. Oktober 1923)
6) s. Hartog, a.a.O., S. 115
7) Meister Eckehart, Vom Nutzen des Lassens, daß man innerlich und äußerlich vollziehen soll
8) s. Hartog, a.a.O., S. 114
9) Meister Eckehart, a.a.O.

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