Heinrich Kaminski

Vortrag von Dr. Heinz-Klaus Metzger
Gehalten im Juli 2005 anläßlich des Konzertes „Der Mensch“, Das geistliche a cappella Werk Heinrich Kaminskis,
in der St. Ursula Kirche München mit dem Orpheus Chor München unter Gerd Guglhör


Guten Abend,
heute bilden wir zusammen mit den Ausführenden des Konzertes eine Versuchsanordnung.
Es geht um den Versuch, einen versunkenen Komponisten zu heben: den in seiner Epoche, der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wohl einzigen von Rang, dessen Werk sich bis heute nicht vom Verdikt der Nazis erholt hat.

Zunächst zur chronologischen Situierung: Heinrich Kaminski kam 1886 zur Welt, drei Jahre nach Webern, ein Jahr nach Alban Berg. Im Unterschied zu ihnen wurde er aber nicht in Wien geboren, der damaligen Welthauptstadt der Musik, sondern in Tiengen, gelegen zwischen Hochrhein und Hotzenwald, dem äußersten Süden Badens. Das Städtchen ist mittlerweile nach Waldshut eingemeindet. War ihm mit solcher Herkunft vielleicht Marginalität, Rückständigkeit prophezeit?

Er besuchte das humanistische Gymnasium in Konstanz. Erlauben Sie mir, da das meine Geburtsstadt ist, ein paar lokale Bemerkungen. Bei dem Gebäude, in dem zu Kaminskis Schulzeit das großherzogliche Gymnasium untergebracht war, handelt es sich um das ehemalige Jesuitenkolleg; es stellt den südlichen Flügel eines im Zuge der Gegenreformation komponierten architektonischen Triptychons dar, dessen zentrale Position die barocke Ordenskirche St. Konrad einnimmt – heute: altkatholische Christuskirche - , während den nördlichen Abschluß der dreiteiligen Anlage das einstige Jesuitentheater bildet, das heutige Stadttheater. Denn das Theater haben die Jesuiten nach Konstanz gebracht, die Aufführung lateinischer Stücke durch die Zöglinge gehörte bei ihnen zum Schulplan.

Hört unsereiner aber den Begriff Triptychon, denkt er sofort an Kaminski, an dessen drei Gesänge für Alt und Orgel aus den Jahren 1926 – 1929, deren Texte aus so unterschiedlichen Kulturkreisen stammen und deren wundersame Zusammenfügung er unter diesen Begriff stellte. Dieses sein „Triptychon“ figuriert im heutigen Konzertprogramm.

Die dritte Station seines Lebenstriptychons leitet Kaminski 1916 mit seiner Niederlassung in Ried ein, nahe Benediktbeuern, im bayerischen Alpenvorland. Sein Aufenthalt dort umfaßt die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens mit der Entstehung nahezu seines gesamten kompositorischen Werks, beginnend mit dem Steichquintett fis-moll, einer der komplexesten Partituren des Jahrhunderts. Seine zeitweiligen Positionen als städtischer Musikdirektor in Bielfeld und als Leiter eines Kompositionsmeisterklasse an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin bedeuten, nachträglich gesehen, eher blasse Exkursionen als wirkliche Unterbrechungen seines Lebens in der Beständigkeit der auratischen oberbayerischen Sakrallandschaft.

Zu seinen Lebzeiten zählte Kaminski noch keineswegs zu den selten aufgeführten Komponisten. In meiner Kindheit, unter der Naziherrschaft, wußten musikbeflissene Kreise durchaus, wer er war: der eben, der nicht mehr aufgeführt werden durfte, obwohl er nicht emigriert war. Denn man kannte Webern noch nicht, für den genau dasselbe galt. Wie aber die Unterdrückung des Kaminskischen Werkes durch die Mörder dann nach der Befreiung Deutschland unmerklich in seine Verdrängung aus dem öffentlichen Bewußtsein sozusagen ins Unbewußte der europäischen Kompositionsgeschichte überging, bleibt rätselhaft.

Daß Kaminski den im Abendland seit ein paar Jahrhunderten vorgegebenen Rahmen des tonalen Idioms niemals erkennbar in Frage stellt oder gar verließ, diesem Faktum mag rezeptionsgeschichtlich eine gewisse Doppelrolle zugekommen sein. Es stellte in der zweiten Jahrhunderthälfte, als bei unzähligen Konzerthörern atonale Musik noch gefürchtet war, wohl einen Vorteil dar; die Komponisten, denen gegenüber Kaminski sich zu behaupten hatte, waren unter diesen Umständen in erster Linie Strauss, Reger, Pfitzner. Als nach der Befreiung Europas allmählich die nicht nur überragende, sondern vor allem zentrale Bedeutung Schönbergs und seiner Schule erkannt wurde, kehrten sich die Vorzeichen um, und dann ließ vollends der zeitweilig überwältigende historische Sieg der internationalen seriellen Bewegung, der Glanz der Namen und der Werke von Non, Boulez und Stockhausen die daneben verbliebene tonale Musik buchstäblich alt aussehen. Vergessen war Schönbergs Warnung, eingebettet in seine Harmonielehre: „Meine Auseinandersetzungen sollten den Glauben an die Notwendigkeit der Tonalität widerlegen, aber nicht den Glauben an die Wirkung eines Kunstwerkes, dessen Autor an die Tonalität glaubt. Woran ein Autor theoretisch glaubt, vermag er ja äußerlich in seinem Werk auszudrücken. Zum Glück nur äußerlich. Aber innerlich, dort wo der Triebmensch beginnt, dort versagt zum Glück alle Theorie und dort spricht er das aus, was besser ist als seine und meine Theorie.“

Der Erklärungsversuch, der den schwer begreiflichen Absturz des Kaminskischen Werks in den Orkus schlicht monokausal aus seiner tonalen Prägung herleiten will, greift vielleicht nicht einmal zu kurz, sondern daneben. Der kurzlebigen Hindemith-Renaissance im Nachkriegsdeutschland, vollends aber der dauerhaften Rezeption des Oeuvres von Strawinsky und Bartók hat es nicht geschadet, daß viele ihrer Werke tonal sind. Und selbst Schönberg griff in einer ganzen Reihe seiner späteren Kompositionen erneut auf die Tonalität zurück, ohne daß er deswegen den Respekt der Nachgeborenen eingebüßt hätte.

Der wirkliche Grund, dafür , daß die berühmt-berüchtigte Wiederkehr des Verdrängten, dieses Herzstück der Freudschen Theorie über das Seelenleben nicht allein der Individuen, sondern auch der Kollektive, im Fall des kompositorischen Lebenswerks von Heinrich Kaminski so nachhaltig ausblieb, dürfte sich nämlich bei Licht besehen als höchst banal erweisen. Aufführungen und Fama, also Verbreitung wie Ruhm der Kaminskischen Musik, waren zu ihrer Glanzzeit, während der Weimarer Republik, wesentlich auf das deutsche Sprachgebiet beschränkt geblieben. Außerhalb gab es keine Kaminski-Pflege. Ähnlich war ja bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zum Beispiel das Schicksal der Musik Bruckners gewesen; nationale Borniertheiten bildeten in der Rezeption von Kultur keine Einzelfälle. 1945 war Deutschlands Befreiung nicht den Deutschen, sondern auswärtigen Mächten zu verdanken, und aus dem Ausland kehrte auch die verbotene Musik zurück: erstaunlicherweise vor allem aus Frankreich die des kurz nach Kriegsende im Salzburgischen von einem amerikanischen Besatzungssoldaten, einem Kompaniekoch, erschossenen Webern. Kaminski starb 1946, ein Jahr später. Aber sein Werk verfügte, als es ihn nun selber nicht mehr gab, über keine auswärtigen Schlupfwinkel oder gar Bastionen, von denen aus es hätte zurückkehren können: ins Land des tödlichen Vergessens, die Heimat.

Was hat es nun mit Kaminskis Tonalität auf sich ? Den Versuch, ihr Spezifisches und damit ihre Merkwürdigkeit auf den Begriff zu bringen, mag es dienlich sein, zunächst keine einzelnen Merkmale herauszuklauben, sondern von der komplexen Gesamterfahrung des Phänomens Kaminskischer Musik auszugehen. Sie hat eine besondere Art, durch die Zeit zu fließen: durch die vergehende Zeit. Wer sich dieser Bewegung, diesem Strömen überläßt und sich als Hörer ihm anverwandelt, der hat bereits ein Zwischenreich, ein Grenzland zwischen der empirischen Zeit, in der wir all unser tatsächliches Leben fristen müssen, und jener besonderen, aus der Welt ein wenig entrückten musikalischen Zeit betreten, welche erst durch die Kompositionen hervorgebracht wird. Kaminskis Musik erzeugt diese sozusagen höhere, dem trivialen Gang der irdischen Dinge und ihrer Verläufe ein wenig enthobene Zeit durch ausschwingende Großrhythmen, die alle Werke Kaminskis besitzen. Dieser weitgespannte Schwingungsrhythmus zeichnet sich durch reiche Untergliederung, pulsierende Bögen über mittlere Zeitspannen von unterschiedlicher Dauer, schließlich kleinteilige Ziselierungen von Momentfolgen aus. Wo birgt sich das Prinzip, das derart komplexe Zusammenhänge auf allen Stufen zeitlicher Strukturierung stiftet – oder buchstäblich „zeitigt“? Kaminskis Antwort auf diese Frage lautet: „Der Ton ist das Zeugende! Der Akkord aber (als der aus ihm Resultierende) ein Gezeugtes!“

Was ist dieser Ton, das elementare Schallphänomen? Er besteht aus Schwingungen, deren Frequenz wir als Tonhöhe und deren Amplitude wir als Lautstärke wahrnehmen. Nun besteht er aber, wenn er kein im Laboratorium erzeugter Sinuston, sondern ein gesungener oder auf einem Musikinstrument gespielter Ton ist, aus mehreren gleichzeitigen, einander überlagernden Schwingungsfolgen dieser Art, sogenannten Partialtönen, und diese innere Polyrhythmik des Tons nehmen wir als seine Klangfarbe wahr. Nun projiziert Kaminski diese Verhältnisse, die im Inneren des Tons wirken und seine Eigenschaften hervorbringen auf die Relationen, die zwischen den verschiedenen Tönen walten: Harmonik ist ja nichts anderes als die Gleichzeitigkeit der Töne, Melodik nichts anderes als ihre Ungleichzeitigkeit. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts veröffentlichte Karlheinz Stockhausen seinen grundlegenden theoretischen Traktat „Wie die Zeit vergeht“, der sich keineswegs die Explikation der Musik Kaminskis, den er kaum gekannt haben dürfte, sondern um die Fundierung des seriellen Konstruktivismus, der damaligen kompositorischen Avantgarde, zum Ziel gesetzt hatte. Stockhausen führte den Begriff der Mikrorhythmen für diejenigen Ereignisse in der vergehenden Zeit ein, deren Abfolge zu rasch ist, als daß wir sie einzeln registrieren könnten, so daß lediglich synthetisch ihre Ergebnisse hören: eben als Höhe, Klangfarbe und Lautstärke eines Tons; die für unsere Wahrnehmung expliziten Dauern der Töne aber, ihre Zusammenklänge und Aufeinanderfolgen definierte er als Makrorhythmen. Die Pointe bei alldem war damals die Möglichkeit, kompositorisch einunddasselbe konstruktive Prinzip auf sie anzuwenden. Heute besteht die Pointe der gesamten Konzeption unter anderem darin, daß sie überraschenderweise ideal auf Kaminski paßt. Wie lautet doch sein von mir zitierter Kernsatz? „Der Ton ist das Zeugende, der Akkord aber (als das aus ihm Resultierende) ein Gezeugtes !“ Diese Formulierung beschreibt, „stockhausensch“ gesprochen, die Zeitigung der großen makrorhythmischen Schwingungen, die für Kaminskis Musik so charakteristisch sind, durch die Mikrorhythmik, die im Inneren jedes Tons steckt.

Eine Fundgrube derartiger Aussprüche und Notizen Kaminskis ist die Kompilation, die unter dem Titel „Äußerungen gegenüber der Nürnberger Presse“ in dem ihm gewidmeten Band 11 der Tutzinger Reihe „Komponisten in Bayern“ einging. Kaminski ging aber noch einen Schritt weiter. Heiko Krohn kam in ihrer bedeutsamen Untersuchung über „Vokalkompositionen Heinrich Kaminski“, einer 1989 der Universität Bochum/Dortmund vorgelegten Examensarbeit, zu einer ganzen Kette von Schlußfolgerungen aus dem soeben dargelegten Sachverhalt: „Es bilden somit nicht die Harmonien tonale Zentren, sondern die einzelnen Töne, d.h. jeder Ton ist in der Lage, ein solches tonales Zentrum zu werden. Kaminski versucht dies durch eine graphische Darstellung zu erläutern. Der Ton ist hier nur als systematischer Anfang gedacht. Das ganze System kann ebensogut jeden beliebigen anderen Ton als „Grundton“, wie Kaminski ihn nennt, verwenden. Der Begriff „Grundton“ bedeutet hier nicht den normalen Grundton einer Tonleiter, den nennt er Basiston, es ist der Ausgangston, von dem aus die Tonreihen gebildet werden… (…) Dieser sogenannte Grundton bildet für den Augenblick der Betrachtung den sogenannten „Kraftmittelpunkt“, alle entstehenden Tonreihen beziehen sich auf ihn, bilden Spannungsverhältnisse (untereinander und zum Grundton) aus. Da jeder beliebige Ton zum Grundton werden kann, geht die eigentliche Tonika-Beziehung … verloren…“ Das hätte John Cage gefallen, der ja lehrte, daß jeder beliebige Ton, methodisch womöglich durch Zufallsoperationen gewonnen, der Mittelpunkt der Welt sei.

Genauer mit Kaminskis Partituren war hingegen wohl Arnold Schönberg vertraut. Als ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Künste in Berlin machte er 1929 von seinem Vorschlagsrecht für die Kooption neuer Mitglieder Gebrauch und reichte eine Liste von fünf Namen ein: Anton von Webern, Alban Berg, Josef Mathias Hauer, Ernst Křenek und Heinrich Kaminski. Daraus, daß es sich bei den vier anderen sämtlich um atonale Österreicher handelte, wird man zwingend zu schließen haben, daß Kaminski der damals einzige tonale, zugleich aber auch der einzige deutsche Komponist war, von dem Schönberg etwas hielt. Fasziniert haben wird ihn die exzeptionelle Komplexität vieler Kompositionen Kaminskis, die ja bisweilen sogar die seiner eigenen Partituren überstieg – Atonalität hin, Tonalität her.
Ob das Neue Musik sei, eine solche Frage dürfte Schönberg, der diesen Begriff ohnedies nicht besonders mochte, kaum interessiert haben. Manfred Peters überschreib seine noch unveröffentlichte Monographie mit dem nur scheinbar widersprüchlichen, in Wahrheit gründlich durchdachten Titel „Kaminski, der tonale Avantgardist“. Daß der geschichtliche Fortgang nämlich einen Funktionswechsel wohl der gesamten tonalen Merkmaleinheiten bewirkt hat, die der Musik Kaminskis eigen sind, drängt sich mittlerweile auf.

Ein frühes Symptom waren die fast von seismographischer Empfindlichkeit zeugenden Veränderungen in den Stellungnahmen übler Autoren. 1929 hatte Hans Joachim Moser, der große Reaktionär und nachmalige Nazi, über Kaminski einen jubelnden Aufsatz veröffentlicht, da er offenbar dessen Festhalten an der Tonalität als Konformismus mißverstand; in seiner 1957 erschienenen „Musikgeschichte in 100 Lebensbildern“ aber schob dann der entnazifizierte Moser die Musik Kaminskis als zu gekünstelt in eine seiner Meinung nach soeben überwundene Vergangenheit ab. Insgeheim war ihm wohl die innere Verwandtschaft mit dem Radikalismus der Wiener Schule aufgegangen, über die ja vielfach schon der erste Blick aufs komplexe Notenbild belehrt.

Der Grund, warum Kaminski sich 1916 in Ried niederließ, war seine Freundschaft mit dem dort lebenden avantgardistischen Maler Franz Marc, der gerade seinen letzten Schritt, den Übergang von der Abstraktion zur absoluten Ungegenständichkeit, vollzogen hatte. Dann geschah etwas Furchtbares: Marc fiel noch im selben Jahr vor Verdun. Kaminski blieb indes in Ried und zog 1921 mit seiner Familie in Marcs Haus, aufgenommen durch dessen Witwe Maria. Hier nur en passant ein Wort über Kaminskis materielle Verhältnisse, die durch permanentes Fehlen von Geld geprägt waren. Ohne die zuverlässige und dauerhafte Hilfe seiner Freunde hätte dieser stets einzig dem Geistigen zugewandte Mensch nur in wenigen Augenblicken seines Lebens existieren können. Nicht alles ist in dieser Hinsicht genau bekannt, doch mit Sicherheit gehörten Emil Nolde, Hermann Schereben und Werner Reinhart, jener Winterthurer Mäzen, der auch Webern über Wasser hielt, zu seinen generösesten und treuesten Förderern.

Kein einziger der von Schönberg vorgeschlagenen Komponisten wurde in die Preußische Akademie der Künste gewählt. Wohl aber wurde Kaminski 1930 berufen, dort als Nachfolger von Hans Pfitzner die Leitung einer Kompositionsmeisterklasse zu übernehmen. Damit waren Schönberg und Kaminski „Lehrerkollegen“ am selben Institut geworden. Beim selben Musikverlag, damals noch der Universal Edition in Wien, waren sie längst. Wie war ihr persönliches Verhältnis? Ich weiß es nicht. Es ist merkwürdig, daß darüber die Quellen so sehr schweigen. Und bald brach Deutschlands Katastrophenjahr 1933 herein. Beide verloren ihre Stellungen, Kaminski auch die in Bielefeld. Schönberg emigrierte, Kaminski jedoch wußte nicht, wohin.

Von apokalyptischer Wirkung auf ihn waren sodann die Ereignisse des 30. Juni 1934. Hitlers erster spektakulärer Massenmord, in aller Öffentlichkeit inszeniert. Diesem Massaker waren sein innerparteilicher Rivale Ernst Röhm und die gesamte damalige SA-Führung ebenso wie eine größere Anzahl von Nazigegnern zum Opfer gefallen, und tags darauf wurde per „Gesetz“ verkündet, dies sei „als Staatsnotwehr rechtens“ gewesen. Kaminski reagiert, indem er „Die Messe deutsch“ zu komponieren begann, in der es heißt: „O wirre Welt! Wie ganz entstellt/hast Du Gottes heilgen Willn/ und aller Wege Ziel und Sinn/ so ganz verkehrt !/…/Wie wir verstört bis in die Wurzel sind/ und mit geheimem Bangen/ nur dies Leben noch zu leben wagen/ wie Irrsinnige uns müh’nd/ das Klagen unserer zertretenen Seele/ völlig zu erschlagen!“ Das erstaunliche Werk blieb Fragment, da Kaminski sich außerstande sah, die Verkündigung „et in terra pax“ auf eine den finsteren Zeitläuften die Stirn bietende Weise zu komponieren.

1938 ereilte ihn das Aufführungsverbot seiner Werke, nicht weil sie „entartet“ seien, sondern weil die „Reichsstelle für Sippenforschung“ herausgefunden hatte, daß er „Halbjude“ war, wie das im widerwärtigen Jargon der Nazis hieß. Mit Kaminskis Abkunft hatte es nämlich folgende Bewandtnis:
Sein Vater Paul Kaminski war ein polnischer Jude, der zum römischen Katholizismus konvertiert war, bei dieser Gelegenheit wohl den Taufnahmen Paul empfangen hatte und dann eine weitere Konsequenz zog: nämlich Theologie studierte und zum Priester geweiht wurde. Was ihn später nach Deutschland verschlug, weiß ich nicht, jedenfalls verwehrte ihm einsteilen der Priesterzölibat die Möglichkeit von Ehe- und legitimer Nachkommenschaft. Die Geburt Heinrich Kaminskis war noch nicht möglich. Doch es kam das erste Vatikanische Konzil, das einige drastische Neuerungen einführte, zum Beispiel das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Damit konnten sich Teile der Kirche nicht abfinden, so daß es zu einer Kirchspaltung kam. Paul Kaminski gehörte nun zusammen mit dem renommierten Theologieprofessor Ignaz Döllinger zu den Gründern der altkatholischen Kirche, die sich den Neuerungen des Ersten Vaticanums versagte. Indes führten die Altkatholischen bald ihrerseits ein paar Neuerungen ein, darunter die Abschaffung des Priesterzölibats. Sie rechtfertigten diese Reform allerdings als Rückkehr zu altkirchlichen Verhältnissen, nämlich als Wiederherstellung des Zustands vor Gregor VII. Nun konnte der Priester Paul Kaminski heiraten und eine Familie gründen. Ist es überspitzt, wenn ich formuliere: Heinrich Kaminski, einer der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts, ist buchstäblich ein Kind des altkatholischen Schismas? 1937 aber war er plötzlich Jude.

Das Aufführungsverbot wurde 1941 aufgehoben, da sich wundersamerweise herausstellte, daß Kaminski nur „Vierteljude“ sei – offiziell hieß das „Mischling zweiten Grades“ – was den Unterschied zwischen Leben und Tod günstig entschied, aber für die Aufführungspraxis eher bedeutungslos war. Daß es beim damaligen Stand der Dinge, aller Veränderungen Deutschlands, Europas und der Welt zum Trotz, unbegreiflicherweise bis zum heutigen Tage geblieben ist, soweit dies nämlich Aufführungen der Werke Kaminskis betrifft, kann nicht hingenommen werden. Der Abend dieses Tages verheißt, daß noch nicht aller Tage Abend ist.

Heinz-Klaus Metzger, Berlin
Herbst 2005

Heinrich Kaminski
Vortrag von Dr. Heinz-Klaus Metzger
Gehalten im Juli 2005 anläßlich des Konzertes „Der Mensch“, Das geistliche a cappella Werk Heinrich Kaminskis,
in der St. Ursula Kirche München mit dem Orpheus Chor München unter Gerd Guglhör


Guten Abend,
heute bilden wir zusammen mit den Ausführenden des Konzertes eine Versuchsanordnung.
Es geht um den Versuch, einen versunkenen Komponisten zu heben: den in seiner Epoche, der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wohl einzigen von Rang, dessen Werk sich bis heute nicht vom Verdikt der Nazis erholt hat.

Zunächst zur chronologischen Situierung: Heinrich Kaminski kam 1886 zur Welt, drei Jahre nach Webern, ein Jahr nach Alban Berg. Im Unterschied zu ihnen wurde er aber nicht in Wien geboren, der damaligen Welthauptstadt der Musik, sondern in Tiengen, gelegen zwischen Hochrhein und Hotzenwald, dem äußersten Süden Badens. Das Städtchen ist mittlerweile nach Waldshut eingemeindet. War ihm mit solcher Herkunft vielleicht Marginalität, Rückständigkeit prophezeit?

Er besuchte das humanistische Gymnasium in Konstanz. Erlauben Sie mir, da das meine Geburtsstadt ist, ein paar lokale Bemerkungen. Bei dem Gebäude, in dem zu Kaminskis Schulzeit das großherzogliche Gymnasium untergebracht war, handelt es sich um das ehemalige Jesuitenkolleg; es stellt den südlichen Flügel eines im Zuge der Gegenreformation komponierten architektonischen Triptychons dar, dessen zentrale Position die barocke Ordenskirche St. Konrad einnimmt – heute: altkatholische Christuskirche - , während den nördlichen Abschluß der dreiteiligen Anlage das einstige Jesuitentheater bildet, das heutige Stadttheater. Denn das Theater haben die Jesuiten nach Konstanz gebracht, die Aufführung lateinischer Stücke durch die Zöglinge gehörte bei ihnen zum Schulplan.

Hört unsereiner aber den Begriff Triptychon, denkt er sofort an Kaminski, an dessen drei Gesänge für Alt und Orgel aus den Jahren 1926 – 1929, deren Texte aus so unterschiedlichen Kulturkreisen stammen und deren wundersame Zusammenfügung er unter diesen Begriff stellte. Dieses sein „Triptychon“ figuriert im heutigen Konzertprogramm.

Die dritte Station seines Lebenstriptychons leitet Kaminski 1916 mit seiner Niederlassung in Ried ein, nahe Benediktbeuern, im bayerischen Alpenvorland. Sein Aufenthalt dort umfaßt die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens mit der Entstehung nahezu seines gesamten kompositorischen Werks, beginnend mit dem Steichquintett fis-moll, einer der komplexesten Partituren des Jahrhunderts. Seine zeitweiligen Positionen als städtischer Musikdirektor in Bielfeld und als Leiter eines Kompositionsmeisterklasse an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin bedeuten, nachträglich gesehen, eher blasse Exkursionen als wirkliche Unterbrechungen seines Lebens in der Beständigkeit der auratischen oberbayerischen Sakrallandschaft.

Zu seinen Lebzeiten zählte Kaminski noch keineswegs zu den selten aufgeführten Komponisten. In meiner Kindheit, unter der Naziherrschaft, wußten musikbeflissene Kreise durchaus, wer er war: der eben, der nicht mehr aufgeführt werden durfte, obwohl er nicht emigriert war. Denn man kannte Webern noch nicht, für den genau dasselbe galt. Wie aber die Unterdrückung des Kaminskischen Werkes durch die Mörder dann nach der Befreiung Deutschland unmerklich in seine Verdrängung aus dem öffentlichen Bewußtsein sozusagen ins Unbewußte der europäischen Kompositionsgeschichte überging, bleibt rätselhaft.

Daß Kaminski den im Abendland seit ein paar Jahrhunderten vorgegebenen Rahmen des tonalen Idioms niemals erkennbar in Frage stellt oder gar verließ, diesem Faktum mag rezeptionsgeschichtlich eine gewisse Doppelrolle zugekommen sein. Es stellte in der zweiten Jahrhunderthälfte, als bei unzähligen Konzerthörern atonale Musik noch gefürchtet war, wohl einen Vorteil dar; die Komponisten, denen gegenüber Kaminski sich zu behaupten hatte, waren unter diesen Umständen in erster Linie Strauss, Reger, Pfitzner. Als nach der Befreiung Europas allmählich die nicht nur überragende, sondern vor allem zentrale Bedeutung Schönbergs und seiner Schule erkannt wurde, kehrten sich die Vorzeichen um, und dann ließ vollends der zeitweilig überwältigende historische Sieg der internationalen seriellen Bewegung, der Glanz der Namen und der Werke von Non, Boulez und Stockhausen die daneben verbliebene tonale Musik buchstäblich alt aussehen. Vergessen war Schönbergs Warnung, eingebettet in seine Harmonielehre: „Meine Auseinandersetzungen sollten den Glauben an die Notwendigkeit der Tonalität widerlegen, aber nicht den Glauben an die Wirkung eines Kunstwerkes, dessen Autor an die Tonalität glaubt. Woran ein Autor theoretisch glaubt, vermag er ja äußerlich in seinem Werk auszudrücken. Zum Glück nur äußerlich. Aber innerlich, dort wo der Triebmensch beginnt, dort versagt zum Glück alle Theorie und dort spricht er das aus, was besser ist als seine und meine Theorie.“

Der Erklärungsversuch, der den schwer begreiflichen Absturz des Kaminskischen Werks in den Orkus schlicht monokausal aus seiner tonalen Prägung herleiten will, greift vielleicht nicht einmal zu kurz, sondern daneben. Der kurzlebigen Hindemith-Renaissance im Nachkriegsdeutschland, vollends aber der dauerhaften Rezeption des Oeuvres von Strawinsky und Bartók hat es nicht geschadet, daß viele ihrer Werke tonal sind. Und selbst Schönberg griff in einer ganzen Reihe seiner späteren Kompositionen erneut auf die Tonalität zurück, ohne daß er deswegen den Respekt der Nachgeborenen eingebüßt hätte.

Der wirkliche Grund, dafür , daß die berühmt-berüchtigte Wiederkehr des Verdrängten, dieses Herzstück der Freudschen Theorie über das Seelenleben nicht allein der Individuen, sondern auch der Kollektive, im Fall des kompositorischen Lebenswerks von Heinrich Kaminski so nachhaltig ausblieb, dürfte sich nämlich bei Licht besehen als höchst banal erweisen. Aufführungen und Fama, also Verbreitung wie Ruhm der Kaminskischen Musik, waren zu ihrer Glanzzeit, während der Weimarer Republik, wesentlich auf das deutsche Sprachgebiet beschränkt geblieben. Außerhalb gab es keine Kaminski-Pflege. Ähnlich war ja bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zum Beispiel das Schicksal der Musik Bruckners gewesen; nationale Borniertheiten bildeten in der Rezeption von Kultur keine Einzelfälle. 1945 war Deutschlands Befreiung nicht den Deutschen, sondern auswärtigen Mächten zu verdanken, und aus dem Ausland kehrte auch die verbotene Musik zurück: erstaunlicherweise vor allem aus Frankreich die des kurz nach Kriegsende im Salzburgischen von einem amerikanischen Besatzungssoldaten, einem Kompaniekoch, erschossenen Webern. Kaminski starb 1946, ein Jahr später. Aber sein Werk verfügte, als es ihn nun selber nicht mehr gab, über keine auswärtigen Schlupfwinkel oder gar Bastionen, von denen aus es hätte zurückkehren können: ins Land des tödlichen Vergessens, die Heimat.

Was hat es nun mit Kaminskis Tonalität auf sich ? Den Versuch, ihr Spezifisches und damit ihre Merkwürdigkeit auf den Begriff zu bringen, mag es dienlich sein, zunächst keine einzelnen Merkmale herauszuklauben, sondern von der komplexen Gesamterfahrung des Phänomens Kaminskischer Musik auszugehen. Sie hat eine besondere Art, durch die Zeit zu fließen: durch die vergehende Zeit. Wer sich dieser Bewegung, diesem Strömen überläßt und sich als Hörer ihm anverwandelt, der hat bereits ein Zwischenreich, ein Grenzland zwischen der empirischen Zeit, in der wir all unser tatsächliches Leben fristen müssen, und jener besonderen, aus der Welt ein wenig entrückten musikalischen Zeit betreten, welche erst durch die Kompositionen hervorgebracht wird. Kaminskis Musik erzeugt diese sozusagen höhere, dem trivialen Gang der irdischen Dinge und ihrer Verläufe ein wenig enthobene Zeit durch ausschwingende Großrhythmen, die alle Werke Kaminskis besitzen. Dieser weitgespannte Schwingungsrhythmus zeichnet sich durch reiche Untergliederung, pulsierende Bögen über mittlere Zeitspannen von unterschiedlicher Dauer, schließlich kleinteilige Ziselierungen von Momentfolgen aus. Wo birgt sich das Prinzip, das derart komplexe Zusammenhänge auf allen Stufen zeitlicher Strukturierung stiftet – oder buchstäblich „zeitigt“? Kaminskis Antwort auf diese Frage lautet: „Der Ton ist das Zeugende! Der Akkord aber (als der aus ihm Resultierende) ein Gezeugtes!“

Was ist dieser Ton, das elementare Schallphänomen? Er besteht aus Schwingungen, deren Frequenz wir als Tonhöhe und deren Amplitude wir als Lautstärke wahrnehmen. Nun besteht er aber, wenn er kein im Laboratorium erzeugter Sinuston, sondern ein gesungener oder auf einem Musikinstrument gespielter Ton ist, aus mehreren gleichzeitigen, einander überlagernden Schwingungsfolgen dieser Art, sogenannten Partialtönen, und diese innere Polyrhythmik des Tons nehmen wir als seine Klangfarbe wahr. Nun projiziert Kaminski diese Verhältnisse, die im Inneren des Tons wirken und seine Eigenschaften hervorbringen auf die Relationen, die zwischen den verschiedenen Tönen walten: Harmonik ist ja nichts anderes als die Gleichzeitigkeit der Töne, Melodik nichts anderes als ihre Ungleichzeitigkeit. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts veröffentlichte Karlheinz Stockhausen seinen grundlegenden theoretischen Traktat „Wie die Zeit vergeht“, der sich keineswegs die Explikation der Musik Kaminskis, den er kaum gekannt haben dürfte, sondern um die Fundierung des seriellen Konstruktivismus, der damaligen kompositorischen Avantgarde, zum Ziel gesetzt hatte. Stockhausen führte den Begriff der Mikrorhythmen für diejenigen Ereignisse in der vergehenden Zeit ein, deren Abfolge zu rasch ist, als daß wir sie einzeln registrieren könnten, so daß lediglich synthetisch ihre Ergebnisse hören: eben als Höhe, Klangfarbe und Lautstärke eines Tons; die für unsere Wahrnehmung expliziten Dauern der Töne aber, ihre Zusammenklänge und Aufeinanderfolgen definierte er als Makrorhythmen. Die Pointe bei alldem war damals die Möglichkeit, kompositorisch einunddasselbe konstruktive Prinzip auf sie anzuwenden. Heute besteht die Pointe der gesamten Konzeption unter anderem darin, daß sie überraschenderweise ideal auf Kaminski paßt. Wie lautet doch sein von mir zitierter Kernsatz? „Der Ton ist das Zeugende, der Akkord aber (als das aus ihm Resultierende) ein Gezeugtes !“ Diese Formulierung beschreibt, „stockhausensch“ gesprochen, die Zeitigung der großen makrorhythmischen Schwingungen, die für Kaminskis Musik so charakteristisch sind, durch die Mikrorhythmik, die im Inneren jedes Tons steckt.

Eine Fundgrube derartiger Aussprüche und Notizen Kaminskis ist die Kompilation, die unter dem Titel „Äußerungen gegenüber der Nürnberger Presse“ in dem ihm gewidmeten Band 11 der Tutzinger Reihe „Komponisten in Bayern“ einging. Kaminski ging aber noch einen Schritt weiter. Heiko Krohn kam in ihrer bedeutsamen Untersuchung über „Vokalkompositionen Heinrich Kaminski“, einer 1989 der Universität Bochum/Dortmund vorgelegten Examensarbeit, zu einer ganzen Kette von Schlußfolgerungen aus dem soeben dargelegten Sachverhalt: „Es bilden somit nicht die Harmonien tonale Zentren, sondern die einzelnen Töne, d.h. jeder Ton ist in der Lage, ein solches tonales Zentrum zu werden. Kaminski versucht dies durch eine graphische Darstellung zu erläutern. Der Ton ist hier nur als systematischer Anfang gedacht. Das ganze System kann ebensogut jeden beliebigen anderen Ton als „Grundton“, wie Kaminski ihn nennt, verwenden. Der Begriff „Grundton“ bedeutet hier nicht den normalen Grundton einer Tonleiter, den nennt er Basiston, es ist der Ausgangston, von dem aus die Tonreihen gebildet werden… (…) Dieser sogenannte Grundton bildet für den Augenblick der Betrachtung den sogenannten „Kraftmittelpunkt“, alle entstehenden Tonreihen beziehen sich auf ihn, bilden Spannungsverhältnisse (untereinander und zum Grundton) aus. Da jeder beliebige Ton zum Grundton werden kann, geht die eigentliche Tonika-Beziehung … verloren…“ Das hätte John Cage gefallen, der ja lehrte, daß jeder beliebige Ton, methodisch womöglich durch Zufallsoperationen gewonnen, der Mittelpunkt der Welt sei.

Genauer mit Kaminskis Partituren war hingegen wohl Arnold Schönberg vertraut. Als ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Künste in Berlin machte er 1929 von seinem Vorschlagsrecht für die Kooption neuer Mitglieder Gebrauch und reichte eine Liste von fünf Namen ein: Anton von Webern, Alban Berg, Josef Mathias Hauer, Ernst Křenek und Heinrich Kaminski. Daraus, daß es sich bei den vier anderen sämtlich um atonale Österreicher handelte, wird man zwingend zu schließen haben, daß Kaminski der damals einzige tonale, zugleich aber auch der einzige deutsche Komponist war, von dem Schönberg etwas hielt. Fasziniert haben wird ihn die exzeptionelle Komplexität vieler Kompositionen Kaminskis, die ja bisweilen sogar die seiner eigenen Partituren überstieg – Atonalität hin, Tonalität her.
Ob das Neue Musik sei, eine solche Frage dürfte Schönberg, der diesen Begriff ohnedies nicht besonders mochte, kaum interessiert haben. Manfred Peters überschreib seine noch unveröffentlichte Monographie mit dem nur scheinbar widersprüchlichen, in Wahrheit gründlich durchdachten Titel „Kaminski, der tonale Avantgardist“. Daß der geschichtliche Fortgang nämlich einen Funktionswechsel wohl der gesamten tonalen Merkmaleinheiten bewirkt hat, die der Musik Kaminskis eigen sind, drängt sich mittlerweile auf.

Ein frühes Symptom waren die fast von seismographischer Empfindlichkeit zeugenden Veränderungen in den Stellungnahmen übler Autoren. 1929 hatte Hans Joachim Moser, der große Reaktionär und nachmalige Nazi, über Kaminski einen jubelnden Aufsatz veröffentlicht, da er offenbar dessen Festhalten an der Tonalität als Konformismus mißverstand; in seiner 1957 erschienenen „Musikgeschichte in 100 Lebensbildern“ aber schob dann der entnazifizierte Moser die Musik Kaminskis als zu gekünstelt in eine seiner Meinung nach soeben überwundene Vergangenheit ab. Insgeheim war ihm wohl die innere Verwandtschaft mit dem Radikalismus der Wiener Schule aufgegangen, über die ja vielfach schon der erste Blick aufs komplexe Notenbild belehrt.

Der Grund, warum Kaminski sich 1916 in Ried niederließ, war seine Freundschaft mit dem dort lebenden avantgardistischen Maler Franz Marc, der gerade seinen letzten Schritt, den Übergang von der Abstraktion zur absoluten Ungegenständichkeit, vollzogen hatte. Dann geschah etwas Furchtbares: Marc fiel noch im selben Jahr vor Verdun. Kaminski blieb indes in Ried und zog 1921 mit seiner Familie in Marcs Haus, aufgenommen durch dessen Witwe Maria. Hier nur en passant ein Wort über Kaminskis materielle Verhältnisse, die durch permanentes Fehlen von Geld geprägt waren. Ohne die zuverlässige und dauerhafte Hilfe seiner Freunde hätte dieser stets einzig dem Geistigen zugewandte Mensch nur in wenigen Augenblicken seines Lebens existieren können. Nicht alles ist in dieser Hinsicht genau bekannt, doch mit Sicherheit gehörten Emil Nolde, Hermann Schereben und Werner Reinhart, jener Winterthurer Mäzen, der auch Webern über Wasser hielt, zu seinen generösesten und treuesten Förderern.

Kein einziger der von Schönberg vorgeschlagenen Komponisten wurde in die Preußische Akademie der Künste gewählt. Wohl aber wurde Kaminski 1930 berufen, dort als Nachfolger von Hans Pfitzner die Leitung einer Kompositionsmeisterklasse zu übernehmen. Damit waren Schönberg und Kaminski „Lehrerkollegen“ am selben Institut geworden. Beim selben Musikverlag, damals noch der Universal Edition in Wien, waren sie längst. Wie war ihr persönliches Verhältnis? Ich weiß es nicht. Es ist merkwürdig, daß darüber die Quellen so sehr schweigen. Und bald brach Deutschlands Katastrophenjahr 1933 herein. Beide verloren ihre Stellungen, Kaminski auch die in Bielefeld. Schönberg emigrierte, Kaminski jedoch wußte nicht, wohin.

Von apokalyptischer Wirkung auf ihn waren sodann die Ereignisse des 30. Juni 1934. Hitlers erster spektakulärer Massenmord, in aller Öffentlichkeit inszeniert. Diesem Massaker waren sein innerparteilicher Rivale Ernst Röhm und die gesamte damalige SA-Führung ebenso wie eine größere Anzahl von Nazigegnern zum Opfer gefallen, und tags darauf wurde per „Gesetz“ verkündet, dies sei „als Staatsnotwehr rechtens“ gewesen. Kaminski reagiert, indem er „Die Messe deutsch“ zu komponieren begann, in der es heißt: „O wirre Welt! Wie ganz entstellt/hast Du Gottes heilgen Willn/ und aller Wege Ziel und Sinn/ so ganz verkehrt !/…/Wie wir verstört bis in die Wurzel sind/ und mit geheimem Bangen/ nur dies Leben noch zu leben wagen/ wie Irrsinnige uns müh’nd/ das Klagen unserer zertretenen Seele/ völlig zu erschlagen!“ Das erstaunliche Werk blieb Fragment, da Kaminski sich außerstande sah, die Verkündigung „et in terra pax“ auf eine den finsteren Zeitläuften die Stirn bietende Weise zu komponieren.

1938 ereilte ihn das Aufführungsverbot seiner Werke, nicht weil sie „entartet“ seien, sondern weil die „Reichsstelle für Sippenforschung“ herausgefunden hatte, daß er „Halbjude“ war, wie das im widerwärtigen Jargon der Nazis hieß. Mit Kaminskis Abkunft hatte es nämlich folgende Bewandtnis:
Sein Vater Paul Kaminski war ein polnischer Jude, der zum römischen Katholizismus konvertiert war, bei dieser Gelegenheit wohl den Taufnahmen Paul empfangen hatte und dann eine weitere Konsequenz zog: nämlich Theologie studierte und zum Priester geweiht wurde. Was ihn später nach Deutschland verschlug, weiß ich nicht, jedenfalls verwehrte ihm einsteilen der Priesterzölibat die Möglichkeit von Ehe- und legitimer Nachkommenschaft. Die Geburt Heinrich Kaminskis war noch nicht möglich. Doch es kam das erste Vatikanische Konzil, das einige drastische Neuerungen einführte, zum Beispiel das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Damit konnten sich Teile der Kirche nicht abfinden, so daß es zu einer Kirchspaltung kam. Paul Kaminski gehörte nun zusammen mit dem renommierten Theologieprofessor Ignaz Döllinger zu den Gründern der altkatholischen Kirche, die sich den Neuerungen des Ersten Vaticanums versagte. Indes führten die Altkatholischen bald ihrerseits ein paar Neuerungen ein, darunter die Abschaffung des Priesterzölibats. Sie rechtfertigten diese Reform allerdings als Rückkehr zu altkirchlichen Verhältnissen, nämlich als Wiederherstellung des Zustands vor Gregor VII. Nun konnte der Priester Paul Kaminski heiraten und eine Familie gründen. Ist es überspitzt, wenn ich formuliere: Heinrich Kaminski, einer der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts, ist buchstäblich ein Kind des altkatholischen Schismas? 1937 aber war er plötzlich Jude.

Das Aufführungsverbot wurde 1941 aufgehoben, da sich wundersamerweise herausstellte, daß Kaminski nur „Vierteljude“ sei – offiziell hieß das „Mischling zweiten Grades“ – was den Unterschied zwischen Leben und Tod günstig entschied, aber für die Aufführungspraxis eher bedeutungslos war. Daß es beim damaligen Stand der Dinge, aller Veränderungen Deutschlands, Europas und der Welt zum Trotz, unbegreiflicherweise bis zum heutigen Tage geblieben ist, soweit dies nämlich Aufführungen der Werke Kaminskis betrifft, kann nicht hingenommen werden. Der Abend dieses Tages verheißt, daß noch nicht aller Tage Abend ist.

Heinz-Klaus Metzger, Berlin
Herbst 2005

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