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Heinrich Kaminski 1886 - 1946
„Der verschollene Komponist“

Heinz-Klaus Metzger

Ein Vortrag, am 23.06.1986 zum einhundertsten Geburtstag von Heinrich Kaminski im 2. Programm des SDR gehalten.

Dass ein Komponist, der zu seinen Lebzeiten bedeutendes Ansehen und, was keineswegs dasselbe ist, einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichte, nach seinem Tode samt allen seinen Werken vom Erdboden verschwindet, ist in der Musikgeschichte keine Ausnahme, sondern die Regel, über welche die paar Namen hinwegtäuschen, die sich zu Recht oder Unrecht deshalb gehalten haben, weil die Programme mit so genannter klassischer Musik aus ihnen kombiniert werden. Man soll aber diese Lektionen des Musikbetriebs nicht gleich fürs Jüngste Gericht oder für das Urteil der Geschichte halten, welches immerhin sich dadurch auszeichnet, dass es ständig revidiert werden muss. Ich hoffe heute Abend eine solche Revision in Sachen jenes Heinrich Kaminski zu inaugurieren, der mittlerweile nahezu total vergessen zu sein scheint, so dass die schiere Möglichkeit, ihm in diesen Tagen eine Sendung zu widmen sich eher dem kalendarischen Zufall verdankt. Am 21. Juni war nämlich sein vierzigster Todestag, vor allem aber wird am 4. Juli sein hundertster Geburtstag sein. Mithin ist 1986 ein doppeltes Kaminski-Jahr, das Gedenken also fällig!
Eingedenk des Umstandes jedoch, dass mutmaßlich die Wenigsten von Ihnen, meine Herren und Damen, ein Werk Kaminskis oder auch nur seinen Namen bislang gehört haben dürften, beginne ich mit Arnold Schönberg. Ich will dabei nicht auf den kompositorischen Gegensatz zwischen beiden hinaus, der jedenfalls oberflächlich gesehen nicht krasser und drastischer sein könnte. Ward doch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Name Schönbergs zum Fanal der atonalen Revolution, derjenige Kaminskis zum Symbol konservativen Festhaltens an einer als historisch intakt vorausgesetzten Tonalität. Vielmehr geht es mir um ein wenig bekanntes und noch seltener beachtetes geschichtliches Faktum. Schönberg, seit 1925 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin und Leiter einer Meisterklasse für Komposition dortselbst, war am 2. Januar 1929 verhindert, an einer Wahl neuer Mitglieder teilzunehmen und reichte daher seine Vorschläge schriftlich ein. In der Kategorie „Auswärtige“, das hieß „Nicht-Berliner“ und daher ohne lokale Rücksichten benennbar, präsentierte er in alphabetischer Reihenfolge die fünf Namen Alban Berg, Joseph Matthias Hauer, Heinrich Kaminski, Ernst Krenek und Anton Webern. Es waren außer Kaminski lauter atonale Österreicher, woraus einigermaßen zwingend zu schließen ist, dass in den zwanziger Jahren Kaminski der einzige tonale, zugleich aber auch der einzige deutsche Komponist war, von dem Schönberg etwas hielt. Grund genug, sich endlich wieder mit ihm zu befassen.

Zunächst einige Informationen zur Person: Heinrich Kaminski wurde am 4. Juli 1886 in Tiengen am badischen Hochrhein, das inzwischen ein Stadtteil von Waldshut ist, geboren, väterlicherseits ostjüdischer, mütterlicherseits allemannischer Abkunft. Pikanterweise wurde durch ein kirchengeschichtliches Ereignis, das sechzehn Jahre vor seiner Geburt eingetreten war, überhaupt erst seine Zeugung ermöglicht. Als Pius IX. auf dem ersten Vatikanischen Konzil 1870 das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes verkündete, formierte sich als Protestbewegung dagegen die Altkatholische Kirche, zu deren Gründern Kaminskis aus Polen zugewanderter Vater Paul, Konvertit und bis dahin römisch-katholischer Priester, gehörte. Seine neue Kirche aber hob den Priesterzölibat auf.

Der junge Kaminski wuchs, den Versetzungen seines Vaters entsprechend, in Waldshut, Konstanz und Bonn heran. Ob sich in der Jugend schon der künftige Komponist in ihm regte, darüber gibt es kurioserweise die kontroversesten Nachrichten, die von der unwahrscheinlichen Behauptung, er habe während seines Schulbesuchs noch keine musikalischen Neigungen erkennen lassen, bis zu einem viel glaubwürdigeren Bericht reichen, der für seine Konstanzer Gymnasialzeit bezeugt, dass er schon gut Klavier spielte und zeitweise Chopin sein Lieblingskomponist gewesen sei. Sicher ist, dass er nach dem Abitur eine Banklehre in Frankfurt am Main und alsbald das Studium der Nationalökonomie in Heidelberg begann, eine Periode, in die eine bestimmte biographische Version erst seinen ersten Klavierunterricht fallen lassen will, in die hingegen mit Gewissheit seine prise de conscience, das Innewerden seiner Berufung zum Musiker gefallen sein muss. 1909, im relativ fortgeschrittenen Alter von dreiundzwanzig Jahren, nahm er ein reguläres Musikstudium in Berlin auf, zog sich aber schon 1914 im hierfür wiederum eher jugendlichen Alter von achtundzwanzig Jahren in seinen Alterssitz Ried bei Benediktbeuern im oberbayerischen Alpenvorland zurück, um unter Bedingungen äußerer Abgeschiedenheit und innerer Ausschließlichkeit seiner kompositorischen Arbeit zu leben. Es handelte sich dabei übrigens um das Haus seines Freundes Franz Marc, des 1916 vor Verdun gefallenen avantgardistischen Malers.

Mit der Übersiedlung nach Ried koinzidierte ungefähr der Abschluss der ersten großen Komposition Kaminskis, des 69. Psalms für achtstimmigen Chor, vierstimmigen Knabenchor, Tenorsolo und Orchester. Der charakteristische Grundzug des Kaminskischen Komponierens, der Struktur und Essenz seiner besten Werke bis zum Schluss ausmachen sollte, ist hier bereits voll und vollkommen ausgebildet. Das bis zum Äußersten greifende, polyphone, kontrapunktische Denken als Medium der musikalischen Erfindung, dessen Ausdrucksspannungen, welche die eigentliche Radikalität dieser Musik bezeichnen, aus der Dialektik zwischen der wuchernden, exuberanten, überbordenden Phantastik der Übereinanderschichtungen autonomer Stimmen und der Rationalität konstruktiver Kontrolle des sich daraus fügenden und übergeordnete Einheitlichkeit konstituierenden Ensembles resultieren. Hierfür scheint nun bei Kaminski die Tonalität eine derart unersetzliche Funktion versehen zu haben, dass Erweiterungen und Aufsprengungen des überkommenen Materials bei ihm niemals in Richtung Atonalität gehen konnten, dafür aber um so entschiedener den Weg zu einer Polyrhythmik einschlagen mussten, die sich simpler Beziehungen der komponierten Zeitwerte auf ein Grundmetrum oft so gründlich entschlägt, wie sonst höchstens atonale Harmonik und Melodik der im übrigen analogen Beziehung auf einen Grundton, und bisweilen auch den Ausweg in die Raumkomposition, also die räumliche Anordnung der Schallquellen an der Aufführungsstätte als integraler Bestandteil des kompositorischen Konzepts im Sinne einer Emanzipation der Schallorte und Schallrichtungen. So 1922 im Concerto grosso für zwei symmetrische Orchester, die allerdings nicht wie später in Karlheinz Stockhausens Gruppen für drei Orchester oder John Cages Thirty pieces für fünf Orchester von jeweils ebenso vielen Dirigenten, sondern von einem einzigen geleitet werden, was technisch mit demselben letztlich religiös fundierten Zentralitätskonzept Kaminskis zusammenhängen dürfte, wie sein rätselhaftes Festhalten an der tonalen Musiksprache. Ein anderes, vielleicht weniger auf die kompositorische Emanzipation der Schallrichtungen, als vielmehr auf die der Schallentfernungen zielendes Raumexperiment liegt seinem einst berühmtesten Werk, dem Magnificat für Solo-Sopran, Solo-Bratsche, Orchester und kleinen Fernchor zugrunde.

Machen Kaminskis geistliche Chorkompositionen fraglos das Herzstück seiner Produktion aus, so ist doch die allgemeine Vernachlässigung seiner Kammermusik im Konzertleben fast noch schmerzlicher für jemanden, der beispielsweise das Quintett für Klarinette, Horn und drei Streicher oder das Streichquintett aus der Lektüre der Partitur kennt. An Komplexität jedenfalls sind diese Gebilde dem besten Schönberg ebenbürtig! Auch dass das Tanzdrama für Orchester von 1942, eine der verwegensten polyphon-polymetrischen Konstruktionen des Jahrhunderts, nie mehr aufgeführt wird, bleibt unbegreiflich!

Und hier endlich muss die Rede politisch werden. Kaminski, der sein ländliches Refugium nur einmal verließ, um öffentlich wirksam zu werden - 1930 übernahm er, was wohl Schönberg arrangiert hatte, die Leitung einer Meisterklasse für Komposition an der Berliner Akademie der Künste und zugleich die der Musikvereinskonzerte zu Bielefeld, bis ihn die Nazis 1933 aus allen Ämtern jagten -, ist offenbar der einzige Komponist von Rang, dessen Musik sich vom Aufführungsverbot durch die Mörderherrschaft nicht erholte. Woran dies liegt, weiß ich nicht. Kaminski starb in seinem Tusculum zu Ried am 21. Juni 1946, nachdem er sein letztes Werk, die Oper Das Spiel vom König Aphelius, inhaltlich seine Abrechnung mit der Diktatur, formal der Höhepunkt einer Ästhetik von musique pure, noch hatte vollenden können. Die posthume Uraufführung 1951 am Stadttheater zu Göttingen vermochte das Werk nicht durchzusetzen und Kaminski nicht wieder ins Musikleben einzufügen. Doch sollten dem auf die Dauer die sicherlich vertrackten geschichtsphilosophischen Schwierigkeiten nicht entgegenstehen, die man mit einem Komponisten der Generation von Edgar Varèse, Anton Webern und Alban Berg hat, der das schon zu Beginn seines Produzierens objektiv vergangene Material der Tonalität so fraglos verwendete, als wäre es zeitgenössisch. Dem steht bei Kaminski ein oft einzigartiger Reichtum der kontrapunktisch-polyphonen Kombinatorik gegenüber, den es mittlerweile erst wieder zu lernen und dem neuesten Komponieren zuzuführen gelte.
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